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Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Titel: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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meisten Menschen bleiben charakterlich die Person, die sie einmal waren. Was sich jedoch verändert hatte, waren die Erinnerungen an sich selbst aus der Zeit vor 25 Jahren! Bei dem Versuch der Probanden, ihre Antworten aus der Zeit der ersten Befragung zu reproduzieren, zeigte sich, dass die Mittvierziger den Kontakt zu sich als 19-Jährige zum Teil verloren hatten. Sie erinnerten die Antworten weit negativer, als sie sie im Alter von 19 Jahren tatsächlich gegeben hatten. So meinten sie, sich an mehr Konflikte zu erinnern, weniger Selbstvertrauen gehabt zu haben, und schrieben sich selbst mangelhafte soziale Fertigkeiten zu. Zusammen genommen glaubte diese Gruppe, als 19-Jährige unglücklicher gewesen zu sein, als sie es tatsächlich waren.
    Solche Ergebnisse erstaunen uns insofern, als wir unser Gedächtnis gemeinhin als eine Art Aktenordner betrachten, als ein Familienalbum oder einen Videofilm, in dem unsere Erinnerungen verwahrt sind. Mittlerweile weiß man jedoch, dass Erinnerungen nicht festhalten, wie wir eine Begebenheit erlebt haben, sondern eine Kopie dieser Begebenheit sind, genau genommen immer die letzte Erinnerung einer Begebenheit. Wir speichern keine wertfreien Schnappschüsse unserer Erlebnisse, sondern vor allem die Gefühle, Empfindungen und Bedeutungen, die uns diese Episoden vermitteln. Und diese Erinnerungen können sich beim Hervorkramen und erneuten Abspeichern verändern. Unser Gedächtnis ist zwar viel besser, als wir gemeinhin glauben, und Verzerrungen der übleren Art kommen nur selten vor, aber wenn es geschieht, erschüttert es uns in unseren Grundfesten. Wenn wir unseren eigenen Erinnerungen schon nicht mehr trauen können, was bleibt dann noch?
    Zu den elementaren Eigenschaften unseres Gedächtnisses gehört das Faktum, dass wir Erinnerungen an Episoden, die gerade stattfinden, nicht loslösen können von solchen, die vor längerer Zeit passiert sind. Das hängt damit zusammen, dass jede Erfahrung in Netzwerken des Gehirns gespeichert wird, und zwar in solchen, deren Verbindungen bei früheren Auseinandersetzungen mit der Welt angelegt und beeinflusst wurden. Dieses bereits in Form von Nervenzell-Netzwerken (und deren Stärken) kodierte Wissen, beeinflusst wiederum, wie wir neue Erlebnisse kodieren und abspeichern. Damit prägen alte Erinnerungen die Textur dessen, was wir aktuell erleben und woran wir uns später erinnern. Aber auch Aktuelles, also z. B. das Wiedererzählen einer Begebenheit, verändert die ursprünglichen neuronalen Netze durch die momentane Netzwerk-Aktivität, so dass sich aktuelle Gefühlsregungen in die erlebten Geschehnisse (und damit die neuronalen Korrelate) einschleichen können.
    Gedächtnisforscher sind sich einig, dass unser Gehirn nicht wie ein Filmprojektor oder Kopierer arbeitet, von daher sind die oben beschriebenen Ergebnisse nicht überraschend. Psychologen wie der Amerikaner Ulric Neisser meinen, dass im Gedächtnisspeicher unseres Gehirns immer nur kleinste Bruchstücke der eintreffenden Sinnesdaten festgehalten werden. Aus diesen re-konstruieren wir, erschaffen wir erst ein vergangenes Ereignis.
    Es bleibt die Frage, welche Erlebnisaspekte im Gedächtnis haften bleiben und ob es wirklich von Vorteil wäre, wenn wir alles erinnern könnten. Dies kann man mit einem klaren Nein beantworten, wie folgendes Beispiel zeigt: 1920 kam Herr Schereschewski in die Sprechstunde von Alexander Luria, einem bis heute berühmten Neurologen. Herr Schereschewski konnte schon in der ersten Sitzung eine einmal präsentierte Liste mit 70 Zahlen in beliebiger Reihenfolge wiederholen, mehr hatte Luria wegen eigener Übermüdung nicht testen können. Schereschewski war Synästhetiker – er hatte eine Vielzahl von sensorischen Erlebnissen, wenn er Wörter und Zahlen hörte oder sah. So konnte er 50 oder mehr Zahlen wiederholen, indem er in seinem Gedächtnis einfach das Tafelbild abrief. Außerdem bediente er sich der Mnemotechnik. Während man ihm eine zu memorierende Liste vorlas, legte er jedes Wort oder jede Zahl entlang eines ihm bekannten Weges ab; musste er die Wörter später wieder abrufen, schritt er in Gedanken den Weg ab und betrachtete die imaginierten Gegenstände am Rande des Weges. Wenn ihm beim Erinnern doch ein Fehler unterlief – was selten vorkam –, so hatte er z. B. versehentlich einen weißen Gegenstand vor eine weiße Wand gelegt. In den 30 Jahren, in denen Luria seinen Patienten Schereschewski beobachtete, stieß er nicht einmal an die Grenze

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