Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Zeitpunkt, an dem wir sie zuletzt erzählt haben?
Dies sind Fragen, die Psychologen und Neurowissenschaftler vermehrt interessieren. Denn in der Tat scheint es so zu sein, dass man eine neue neuronale Spur anlegt, wenn man sich an etwas erinnert. Erinnert man sich dann erneut, ist es in Wirklichkeit die jüngste Spur, die aktiviert wird. Wenn man so will, reisen unsere Erinnerungen, auch die ältesten, ein Leben lang in unseren Gehirnen mit. Gleichzeitig werden sie dabei überschrieben von Kopien, die durch Wiedererleben und Wiedererzählen dieser Erinnerungen entstehen. »Durch das Zurückdenken an die erste Erinnerung wird ein bemerkenswerter Kontakt in den neurologischen Kreisen des Gedächtnisses geschlossen: Das Älteste wird kurzzeitig zum Neuesten, das Erste zum Letzten«, schreibt Douwe Draaisma.
»Wenn wir alle Erlebnisse
und Eindrücke, die
wir je gehabt haben,
dauerhaft abspeichern
würden, wäre unser
Gehirn ein Äquivalent zu
Pompeji. Denn Bröckchen
nützlichen Wissens lägen
unter riesigen Mengen
nutzloser Informationen
quasi vergraben –
informationeller Müll.«
Elkhonon Goldberg
Im Folgenden sei versucht, etwas Licht in die Dämmerzone zu bringen, in der aktuelle Erinnerungen und das »damals Erlebte« nacheinander abgelegt sind. Unsere Erinnerungen sind zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens eine Rekonstruktion von Erlebtem anhand weniger Eckpunkte. Das macht die Effektivität und Stärke unseres Gedächtnisses aus, aber auch seine Vergesslichkeit und Fehlbarkeit. Diese Fakten konnte die Psychologin Elisabeth Loftus belegen, und zwar sogar bei Experten in Sachen Lern- und Gedächtnisleistungen: Zwei Wochen nach einer Konferenz der Cambridge Psychological Society sollten die Teilnehmer aufschreiben, was sie erinnerten. Diese Erinnerungen wurden verglichen mit minutiösen Mitschnitten der Tagung. Wie Lotfus herausfand, erinnerten die Teilnehmer im Schnitt nicht mal 8 % des Programms – nur zwei Wochen nach der Konferenz waren also 92 % ihrer Inhalte schon dem Vergessen anheimgefallen.
Noch markanter war, dass von diesen mickrigen 8 %, die die Teilnehmer behalten hatten, nur 50 % teilweise richtige oder gänzlich richtige Erinnerungen waren. Die anderen 50 % der »erinnerten« Ereignisse wurden erfunden, an andere Orte oder Begebenheiten verlegt oder falsch zusammenkonstruiert. Und dies alles bei jungen, geistig leistungsfähigen Forschern, die nicht im Verdacht stehen, »Seniorengehirne« zu haben!
Diese Ergebnisse tauchen die Annahme, dass wir im Alter langsam, aber sicher unser Gedächtnis verlieren, in ein anderes Licht. Denn neben all den genannten Gründen gibt es noch einen anderen Einwand in der Verteidigung unseres alternden Gedächtnisses, zumindest etwas »Schuldminderndes«: Unser Gedächtnis ist zu keinem Zeitpunkt unseres Lebens präzise, unfehlbar und vollständig. Vergesslichkeit ist das eine, Zuverlässigkeit das andere, und gemeinsam ist beiden, dass das Gedächtnis zu keiner Zeit unseres Lebens auch nur annähernd versucht, das dauerhaft abzuspeichern, was wir exakt erlebt und erfahren haben. Es versucht gar nicht erst, ein in jedem Sinne akkurates Bild der Vergangenheit in unserem gegenwärtigen Denken zu erzeugen. Als junge Erwachsene bemerken wir das nicht und sind voller Selbstbewusstsein hinsichtlich unserer Gedächtnisfähigkeiten, im Alter aber werfen wir uns dies vor.
Nun werden die älteren Leser einwenden, dass sie es nur bedingt tröstlich finden, dass auch die Gedächtnisprozesse jüngerer Menschen fehlerbehaftet sind und verlorene Erinnerungen jede unserer Lebensphasen begleiten. Denn im Alter leben wir viel stärker mit unseren Erinnerungen, als jüngere Menschen dies tun. Wenn man dann liest, dass diese Erinnerungen nur Rekonstruktionen von Erlebnissen sind, ist dies auf den ersten Blick möglicherweise beunruhigend. Allerdings sind es äußerst gute Rekonstruktionen, und es ist keineswegs so, dass wir unser Leben im Nachhinein erfinden.
Dennoch ist und bleibt es überraschend, in welchem Ausmaß sich unsere Erinnerungen im Laufe des Lebens verändern. Dies konnte auch eine im Jahre 1949 gestartete Studie aus Kalifornien belegen, die damals 500 etwa 19-jährige Menschen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, ihres Selbstvertrauens, ihrer Entwicklung sozialer Fertigkeiten und ihres Selbstwertgefühls befragte. 25 Jahre später wurden dieselben Personen erneut gefragt, mit dem Ergebnis, dass sich die Persönlichkeit der befragten Personen als sehr stabil erwies. Die
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