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Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Titel: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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wir »das Lager« – die Schatzkammern des Gedächtnisses – nicht scharf von den aktuellen Geschehnissen in den neuronalen Netzen trennen. Die zunehmende Menge an Erinnerungen im Alter macht die zeitliche Einordnung von Ereignissen außerdem schwieriger.
    Dies bestätigt auch eine britische Studie, in der die Forscher Versuchspersonen fragten, wann Premierministerin Margaret Thatcher zurückgetreten sei. Jüngere Versuchsteilnehmer waren in ihren zeitlichen Angaben genauer als ältere. In den Fällen, wo jüngere Probanden sich irrten, ordneten sie das Ereignis zeitlich weniger weit entfernt ein, während ältere Menschen das Ereignis meistens zu weit in die Vergangenheit zurückverlegten. Es scheint so, als ob jüngere und ältere Menschen mit entgegengesetzten Fernrohren in die Vergangenheit schauen. Dies erklärt vielleicht auch, warum der letzte Besuch der Enkel bei den Großeltern von den Enkeln zeitlich so ganz anders wahrgenommen wird als von ihren Großeltern (»bestimmt drei Monate her« sagen die Alten, »höchstens sechs Wochen«, sagen die Jungen), und wahrscheinlich hat keine der beiden Parteien recht. Diese Erkenntnis, dass Großeltern und ihre Kinder die Vergangenheit mit »entgegengesetzt orientierten Teleskopen« betrachten, wie es der niederländische Psychologe Douwe Draaisma nennt, könnte den nächsten Streit über die Datierung des letzten Besuches möglicherweise befrieden.
    »Seitdem sind mehr als 50 Jahre vergangen«, erklärt der Kalender, dieser hornalte, kahle Buchhalter im Büro der Geschichte, der die Zeitrechnung kontrolliert und, mit Tinte und Lineal, die Schaltjahre blau und jeden Jahresbeginn rot unterstreicht. »Nein!« ruft die Erinnerung und schüttelt die Locken. »Es war gestern«, und lächelnd fügt sie, leise hinzu: »Oder allerhöchstens vorgestern.«
Wer hat unrecht? Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine kann mit der Elle messen, mit der Bussole und mit dem Sextanten. Wie man Straßen und Grundstücke ausmißt. Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu schaffen. Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergeßliche war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit. Vergeßt das Unvergeßliche nicht! Diesen Rat kann man, glaub ich, nicht früh genug geben.
    Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war
    Neben den zeitlichen Aspekten der Einordnung von Ereignissen ist es interessant, sich anzuschauen, welche Lebensphasen man besonders intensiv erinnern kann. Wer seine Lebensgeschichte aufschriebe, würde merken, die ersten Erinnerungen fielen in das dritte oder vierte Lebensjahr, danach stiege die Anzahl der Erinnerungen bis zum 20. Lebensjahr stetig an, um sich dann auf ein konstant niedriges Niveau zu senken; erst die jüngste Vergangenheit würde dann wieder etwas präsenter.
    Dabei gibt es einen markanten »Buckel« in der Erinnerungs-, oder sollte man besser sagen: Vergessenskurve, unseres Lebens: Wenn Versuchspersonen z. B. gebeten werden, ihre vier wichtigsten Erinnerungen zu nennen, liegen diese meist um das 20. Lebensjahr herum. Psychologen berichten – und das werden viele von Ihnen bestätigen können –, dass Menschen ein Leben lang diejenige Musik gerne hören, die sie zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr liebten, mit der sie sozusagen erwachsen wurden. Fragt man Menschen nach den fünf wichtigsten Büchern in ihrem Leben, so wurden diese im statistischen Mittel mit 19 Jahren gelesen. Bittet man Versuchsteilnehmer, eine Liste von fünf Filmen zu erstellen, die Probanden »für ihre Zeit« kennzeichnend finden, ohne dass »ihre Zeit« weiter definiert wird, so liegt der Mittelwert des Lebensalters, in dem diese Filme gesehen wurden, bei 22 Jahren. Die Reihe diesbezüglich interessanter Experimente und Befragungen lässt sich fortführen: Hundert Menschen zwischen ihrem 55. und 78. Lebensjahr wurden nach ihrer angenehmsten und unangenehmsten Lebenserinnerung befragt. Während die unangenehmsten sich gleichmäßig über das Leben verteilten, waren die angenehmsten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr statistisch stark gehäuft. Dass man sich am besten an die Zeit des 20. Lebensjahres erinnern kann, bezeichnet der Gedächtnisforscher Draaisma als Reminiszenzhöcker (Abb. 22).

    Abbildung 22: Lebenskurve der Erinnerungen
    Die Vergessenskurve verläuft nicht gleichmäßig über das Leben, es gibt Lebensphasen,

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