Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
erinnern, greifen nicht mehr. Um es in den Worten des niederländischen Gedächtnisforschers Douwe Draaisma zu sagen: »Es ist ein paradoxer Aspekt dieser abnehmenden Gedächtnisleistung, dass nicht so sehr die Vergangenheit angegriffen wird, sondern die Zukunft.«
Arbeitsgedächtnis: Störfeuer Ablenkung
Wie wir bereits gesehen haben, ist das Arbeitsgedächtnis im Stirnlappen besonders stark von Alterungsprozessen betroffen. Entsprechend funktioniert es nicht mehr so perfekt, und man wird im Alter leichter ablenkbar, weil es einem schwerer fällt, eine Aufgabe mit selektiver Aufmerksamkeit unter Ausschluss von Störreizen zu bearbeiten. Moderne bildgebende Verfahren decken nicht nur auf, welche Gehirngebiete aktiv sind, wenn wir auf Sinnesreize reagieren oder kognitive Aufgaben lösen, sondern auch, welche Gehirnareale beschäftigt sind, wenn wir nichts tun, die Gedanken schweifen lassen, tagträumen, also unfokussiert mit uns selbst oder mit nichts beschäftigt sind. Immer dann, wenn ein Teil des Stirnlappens die Kontrolle über das Gehirn zu verlieren scheint (und damit die selektive Aufmerksamkeit zusammenbricht), verfallen wir in diesen Grundzustand des Gehirns, in dem der Stirnlappen wenig aktiviert ist und die innen an den Seiten der einander zugewandten Großhirnhälften gelegenen Cortexareale besonders aktiv sind. Dieser Zustand ist allerdings alles andere als ungeordnet, und es herrscht auch kein völliger Stillstand im Gehirn, etwas, was das Gehirn als Dauerarbeiter gar nicht kennt. Sobald wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren, wird dieser Tagträumer-Zustand des Gehirns, der auch als default mode oder als dunkle Energie des Gehirns bezeichnet wird, ausgestellt, er wird quasi aktiv abgeschaltet. Und dies gelingt beim Älterwerden immer weniger, was eben das aufmerksame Fokussieren erschwert.
Zur selektiven Aufmerksamkeit gehört nicht nur das Abschalten des Tagtraum-Modus des Gehirns, sondern auch die Inhibition (Unterdrückung) bestimmter Signale, die störend auf die zu erledigende Aufgabe wirken könnten. Je älter man ist, umso schwerer wird es, störende Reize auszublenden – ähnlich wie bei Kindern, die unter einem Aufmerksamkeits-(Hyperaktivitäts)-Syndrom leiden. Unliebsame Störsignale auszublenden ist die Aufgabe des Stirnlappens. Entscheidend dabei ist, die Informationsverarbeitung störender Reize gleich am Beginn zu verhindern (sind die Informationen erst einmal im Gehirn, werden sie unausweichlich auch verarbeitet). Aber selbst wenn der präfrontale Cortex irrelevante Signale zu langsam ausschaltet, gelangen sie ins Gehirn – und wir leiden unter einer Reizüberflutung. Allerdings trifft dies nicht alle Gehirne im mittleren oder hohen Alter: Wissenschaftler stellen große Unterschiede fest, die auch deshalb entstehen, weil manche Menschen trainierter sind, neue Informationen zu verarbeiten, als andere.
»Irrelevante« Informationen wahrzunehmen kann aber auch ein Vorteil sein, denn was in einem Moment nicht relevant ist, kann es im nächsten werden! Ja, es gehört zum Prozess des kreativen Denkens, normalerweise unbeachtete Zusammenhänge in einen Zusammenhang zu stellen. Dies wird als divergentes Denken bezeichnet, und in der Tat sind ältere Menschen nicht weniger kreativ als jüngere. Zwar schwindet bei älteren Menschen häufig die Lust auf völlig Neues, die Neugierde lässt nach, aber sie machen dies dadurch wett, dass sie Zusammenhänge herstellen, die Jüngere oft gar nicht sehen.
Die Crux mit der Zeit: Wann ist was geschehen?
Gerade ältere Menschen berichten häufig von einem anderen Zeiterleben in ihren Erinnerungen sowie von Erinnerungen aus ihrer Jugend, die sich überfallartig ins Bewusstsein drängen, obwohl man Jahre nicht an sie gedacht hat, ja nicht einmal mehr wusste, dass man sie überhaupt hatte.
Tatsächlich fällt es uns mit zunehmendem Alter immer schwerer, Ereignisse zeitlich richtig einzuordnen. »War das Essen mit Jugendfreunden nun vor zwei oder sechs Wochen?« ist eine typische Frage, die Seniorenehepaare diskutieren. Und das überrascht und erschreckt uns gleichermaßen, denn wir behandeln das Gedächtnis gerne wie einen Diener, der uns immer zur Verfügung steht, um uns diese oder jene Erinnerung aus dem »Speicher« zu holen. Wir merken nicht, dass nur wir durch unser Gedächtnis denken, fühlen und ein Ich-Bewusstsein spüren können. Dadurch dass in unseren Gehirnen das Vergangene und das Hier und Jetzt organisch miteinander verwoben sind, können
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