Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
hinterlassen Spuren in unserem Gehirn, nur dass wir diese, im Gegensatz zu anderen körperlichen Veränderungen, nicht zu sehen vermögen. Der Blick in den Spiegel verrät uns nichts über das Innenleben in unserem Kopf. Dieses Kapitel wird Ihnen gewissermaßen einen neuronalen Spiegel vorhalten, es soll Ihnen zeigen, wie der Alterungsprozess in unserem Gehirn stattfindet. Und genauso wie Sie ein graues Haar, wenn Sie es bei der Morgentoilette entdeckt haben, vielleicht herauszupfen oder sich regelmäßig eine Antifaltencreme um die Augen tupfen, möchte ich Ihnen auch ein Instrumentarium an die Hand geben, um kleine Altersspuren im Gehirn zu minimieren. Doch vor der Anwendung steht die Erkenntnis.
Kognitive Bestandsaufnahme: Was wir im Alter besser können – und was nicht
Eine der bemerkenswertesten Studien über kognitives Altern wird im amerikanischen Seattle durchgeführt, wo Wissenschaftler seit 1957 mehr als 6000 Teilnehmer über mittlerweile 50 Lebensjahre hinweg beobachten. Alle sieben Jahre werden die Probanden, genauso viele Männer wie Frauen, die zu Beginn der Studie alle gesund waren, hinsichtlich ihrer geistigen Fitness untersucht. Das selbst für die Forscher überraschende Ergebnis des Experiments ist, dass die über 50-Jährigen in kognitiven Tests besser abschneiden als die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Altersgruppe 25 bis 35 Jahre, und zwar in vier von sechs Testbereichen:
■Sprachkompetenz: Dabei mussten die Testpersonen Synonyme für bestimmte Begriffe finden.
■Sprachgedächtnis: Dabei wurden die Probanden daraufhin getestet, wie viele Wörter sie nach einer bestimmten Zeit noch erinnern konnten.
■Räumliche Orientierung: Die Studienteilnehmer sollten Objekte im Raum erkennen und virtuell drehen.
■Schlussfolgerndes Denken: Dabei wurden die Testpersonen aufgefordert, logische Probleme zu lösen.
Nur in der Geschwindigkeit der sensorischen Verarbeitung (wie Reaktionsgeschwindigkeit, Geruchsdifferenzierung, Seh- und Hörgenauigkeit) und im Umgang mit Zahlen, z. B. beim Kopfrechnen, zeigten die älteren Teilnehmer einen Leistungsabfall im Vergleich zu den jüngeren. Männer und Frauen unterschieden sich hierbei darin, dass Männer ihr Leistungshoch etwas eher erreichen als Frauen, und zwar im statistischen Mittel mit 55 bis 57 Jahren, während es bei Frauen zwischen dem 60. und 63. Lebensjahr liegt. Außerdem waren die männlichen Teilnehmer in der räumlichen Orientierung und im schlussfolgernden Denken besser als die Frauen, während die Frauen in den ersten beiden Kategorien, Sprachgedächtnis und Sprachkompetenz, überlegen waren (was im Übrigen für die gesamte Lebensspanne gilt).
»Alte Leute sind
gefährlich; sie haben
keine Angst vor
der Zukunft.«
George Bernard Shaw
Diese Erkenntnisse widersprechen massiv unserer Intuition. Fast jeder von uns würde doch behaupten, dass sein Gehirn zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, oder sogar noch früher, am leistungsfähigsten ist! Diese Wahrnehmung könnte damit zusammenhängen, dass unsere Gehirne darauf geeicht sind, Unterschiede zu erkennen. So vergleichen wir unsere Leistungsfähigkeit immer mit der vom Vorjahr, nicht mit der, als wir 20 oder 30 Jahre alt waren. Stellen wir eine Verschlechterung fest, meinen wir, unsere Leistungsfähigkeit hätte insgesamt seit dem 25. Lebensjahr abgenommen. Darüber hinaus verwechseln wir die Geschwindigkeit des Lernens mit der Qualität des Lernens. Es zeigt sich, dass viele ältere Menschen, die ein Problem zu lösen haben, nur noch wenige neue Informationen verarbeiten müssen, während junge Gehirne – vor dieselbe Aufgabe gestellt – ein Vielfaches an Informationen prozessieren müssen (siehe Kapitel 4 und 6).
Dennoch: Mit zunehmendem Alter lässt sich ein bestimmter Leistungsabfall in unserem Gedächtnis nicht leugnen. So nehmen etwa unsere Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun (das berühmte Multitasking), unsere Reaktionsfähigkeit und insgesamt die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung ab. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – wissen wir heute aus vielen wissenschaftlichen Studien, dass unsere Gehirne nicht gleichmäßig altern. Wie oben beschrieben, sind einige Fähigkeiten jenseits des 60. Lebensjahres sogar besser als jemals zuvor.
Das Zwei-Komponenten-Modell für kognitive Fähigkeiten bzw. Intelligenz trägt diesem Umstand Rechnung: Es unterscheidet eine pragmatische (kristalline) und eine mechanische (fluide) Intelligenz (Abb. 2).
Weitere Kostenlose Bücher