Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
und linken Großhirnhemisphäre gibt. Zwar arbeitet das Gehirn als wohlintegriertes Ganzes, doch die Hemisphären weisen profunde funktionelle Unterschiede auf (Abb. 28). Die rechte Hemisphäre ist die Gehirnhälfte für Neues, sie ist, wenn man so will, die wagemutigere Seite der Großhirnrinde, die Entdeckerin des Unbekannten und des Unkartierten (Verarbeitung neuer Informationen). Und diese Seite des Gehirns altert schneller als die linke Seite, die ihrerseits das Depot für komprimiertes Wissen und für stabile Mustererkennungsinstrumente ist. Diese Mechanismen ermöglichen es, effizient mit vertrauten Situationen und geistigen Routinen umzugehen. All dies bezogen auf Rechtshänder, denn bei einem Teil der Linkshänder ist die Hemisphärenfunktionalität vertauscht.
Die beiden Hemisphären unterscheiden sich auch hinsichtlich der Cortextypen. So hat die rechte Hemisphäre mehr heteromodale Assoziationscortices, was bedeutet, dass es mehr Areale gibt, wo verschiedene Sinneswahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen) miteinander kombiniert verarbeitet werden. Hier findet verstärkt die Integration von Informationen statt, die sie von unterschiedlichen sensorischen Arealen erhält. Als die holistischere Hemisphäre setzt die rechte Seite des Gehirns das synthetische Bild der multimedialen Welt um uns herum wieder zusammen. Die linke Hemisphäre hat mehr modalitätsspezifische Assoziationscortices. Sie verarbeitet also Sinneskanäle getrennter voneinander, als dies auf der rechten Seite der Fall ist, und sie verfügt über mehr lokale Verbindungen zwischen benachbarten corticalen Regionen (vergleichbar einem kontinentalen Schienennetz). Die rechte Hemisphäre wiederum hat mehr weitverzweigte Verbindungen zwischen entfernt liegenden corticalen Arealen und ähnelt damit eher einer interkontinentalen Schiffs- oder Flugzeugflotte.
Abbildung 28: Linke und rechte Hemisphäre
Die beiden Großhirnhemisphären sind funktionell nicht gleichwertig, sondern übernehmen unterschiedliche Aufgaben; während die rechte Hemisphäre vor allem am Erwerb neuer Fähigkeiten und der Aktivierung der Neugierde beteiligt ist, ist die linke Seite der Aufbewahrungsort vieler gespeicherter Muster.
Wenn wir etwas Neues lernen, ist zunächst die rechte Hemisphäre involviert – und genau die wird im Alter in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, so dass es entsprechend schwieriger wird, komplett neue Konzepte zu lernen. Hinzu kommt, dass die Dopaminkonzentration abnimmt, was zusätzlich die Neugierde auf Neues dämpft. Aber je routinierter wir etwas anwenden und je länger wir bestimmte Wissensinhalte benutzen, umso mehr erfolgt eine Umschichtung auf die linke Großhirnhemisphäre: Hier werden generische Gedächtnisinhalte gespeichert, Routinen und Muster (Abb. 29).
Ein Individuum, das sich einer »wirklich« neuen Situation oder einem neuen Problem gegenübersieht, packt es vorwiegend mit der rechten Hemisphäre an. Aber sobald das Problem vertraut ist, die Aufgabe beherrscht wird, wird die dominante Rolle der linken Hemisphäre deutlich. Es sieht so aus, als ob die entsprechenden Muster, die die Essenz des Problems bzw. der Klasse dieser Probleme einfangen, in der linken Hemisphäre gebildet und gespeichert werden. Diese Art der Mustererkennung gilt für sprachbezogene Gedächtnisinhalte (deklaratives Gedächtnis) ebenso wie für nicht sprachliche Gedächtnisinhalte (prozedurales Gedächtnis)!
Abbildung 29: Die Routine wandert nach links
Jeder Prozess einer neuen Musterbildung muss zuerst die rechte Hemisphäre durchlaufen (A), dann erst ist die linke Hemisphäre dran. Dadurch kommt es zu einer allmählichen Verlagerung (B) des »geistigen Gravitationszentrums« (E. Goldberg) in die linke Hemisphäre (C), also von rechts nach links.
Einer der Gründe für die unterschiedlichen Alterungsprozesse der beiden Hemisphären könnte darin bestehen, dass die linke Hemisphäre im Laufe des Lebens immer stärker genutzt wird (man erkennt in neuen Situationen ständig bekannte Muster), während man nicht permanent Neues lernt.
Im Laufe des Alterungsprozesses werden die Sulci (Furchen) der rechten Großhirnhälfte immer flacher. Besonders ausgeprägt scheint diese Verflachung im Scheitel- und Hinterhauptslappen der rechten Hemisphäre. Die Sulci der linken Hemisphäre dagegen zeigen kaum Veränderungen, hier beginnt der Abbau erst zehn Jahre später. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Während unseres Heranwachsens sammelt
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