Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Dazu bedarf es der richtigen Mixtur aus emotionaler Kontrolle (damit nicht Affekte die Handlungen bestimmen wie bei Jugendlichen), Expertenwissen und Lebenserfahrung. Und das bedeutet auch, dass man Weisheit nicht allein dadurch erlangt, dass man kalendarisch älter wird, sondern indem man Lebenserfahrungen ansammelt und für die Probleme und Sorgen anderer Menschen ein offenes Ohr hat. Stark selbstzentrierte Menschen, die Letzteres eher vernachlässigt haben, senken ihre Chance, im Alter weise zu werden.
Der Sitz der Weisheit im Gehirn
Natürlich wollen die Neurowissenschaftler auch ergründen, inwiefern sich diese Erkenntnisse über Weisheit mit Ergebnissen der Neurowissenschaften bezüglich des alternden Gehirns in Verbindung bringen lassen.
Beginnen wir mit einem der wichtigsten Merkmale der Weisheit: der hohen emotionalen Intelligenz (siehe auch Kapitel 5). Die Teile des Stirnlappens, die mit emotionaler Kontrolle beschäftigt sind, altern langsamer als andere Gehirnareale wie etwa die Amygdala. Als Konsequenz nimmt die kortikale Kontrolle über unser Gefühlsleben zu. Eine positive Folge des Alterns besteht also darin, dass wir bessere anatomische Voraussetzungen haben, um unsere Emotionen zu kontrollieren und zu analysieren. Noch wichtiger ist aber, dass wir mit zunehmendem Alter über mehr Erfahrungen verfügen, wie man mit bestimmten Situationen, in denen man emotional aufgewühlt ist, umgeht. Auch hier spielen also gespeicherte Erinnerungen (Lebenserfahrung!), in dem Fall über erlebte Episoden, eine Rolle. Lebenserfahrung ist aber keine automatische Konsequenz des Älterwerdens. Wie bei jüngeren Menschen gibt es auch bei älteren eine große Spannbreite hinsichtlich der emotionalen Intelligenz – je nachdem wie viele Erfahrungen man mit anderen Menschen und dem eigenen Gefühlsleben gemacht hat. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass der EQ parallel zu den gelebten Jahren steigt. Aufgrund dieser besser werdenden emotionalen Kontrolle darauf zu schließen, dass die Welt im Alter emotional »grauer« wird, wäre aber falsch; im Gegenteil, viele Altersstudien belegen, dass die Gefühlswelt reichhaltiger wird.
Weiter oben habe ich gezeigt, dass ein anderes Merkmal der Weisheit Mustererkennung ist. So kann man mit zunehmendem Alter aufgrund seiner Lebenserfahrung in fast allen Situationen auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der es einem erlaubt, selbst bei schlechter »Faktenbeleuchtung« sicher einen guten Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Dass ein weiser Mensch eine ungewöhnlich hohe Zahl von Mustern kennt, von denen jedes einzelne eine ganze Klasse wichtiger Informationen umfasst, ist genau genommen das Ergebnis einer großen Zahl von Attraktoren, die im Gehirn eines älteren Menschen gespeichert sind. Unter Attraktoren versteht man Berechnungssysteme im Gehirn, die anhand der Gesamtanalyse einer komplexen Situation jenseits der singulären Faktenlage zu eindeutigen Lösungen kommen. Allgemein bezeichnet der Begriff Attraktor einen für ein System »attraktiven« dynamischen Zustand, im Sinne eines über die Zeit relativ stabilen Musters – wir brauchen nur die Eckpunkte eines Stuhls oder eines Apfels zu sehen und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das gesamte Muster neuronaler Erregung aktiviert, welches einen »Apfel« oder einen »Stuhl« kodiert. Da es eine Zeit dauert, bis sich diese mustererkennenden Attraktoren bilden und in entsprechend großer Zahl ansammeln, muss man erst alt werden, um weise sein zu können.
Attraktoren im Gehirn bedeuten für das generische Gedächtnis, dass eine ganze Bandbreite an Inputreizen die gleiche Aktivierung eines raumzeitlichen Musters in einem neuronalen Netzwerk auslöst. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Sie können sich nicht an den Namen einer Person erinnern, aber in dem Moment, wo die Person den Raum betritt, fällt Ihnen der Name wieder ein. Eine visuelle Komponente über das Gesicht hat eine auditorische Komponente über den Namen aktiviert – obwohl die beiden Informationen in verschiedenen Arealen verarbeitet werden (die Gesichtsinformation im Scheitellappen, die Namensinformation im Schläfenlappen). Sie sind zu einem einzigen Attraktor verwoben, und sobald eine kleine Untereinheit einer Neuronengruppe aktiviert wird, können sie das gesamte Netz aktivieren.
Ein in diesem Kontext wichtiger Umstand ist, dass es bezüglich der Mustererkennung eine interessante und bisher wenig beachtete Arbeitsaufteilung zwischen der rechten
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