Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
das Gehirn verschiedene Muster an, die uns in die Lage versetzen, mit neuen Situationen so umzugehen, als seien sie vertraut. Diese gebrauchsfertigen Muster werden, sobald sie einmal gebildet sind, vorwiegend in der linken Hemisphäre gespeichert. Es entsteht ein gradueller Übergang von rechts nach links.
Entsprechend verlagert sich die kognitive Kontrolle im Laufe des Lebens von der rechten auf die linke Seite – ein über das gesamte Leben ablaufender Prozess. In jungen Jahren ist die rechte Hemisphäre die dominante, im Laufe des Lebens verliert sie mehr und mehr an Terrain zugunsten der linken Hemisphäre, während die linke Hemisphäre nach und nach eine zunehmend größere Bibliothek von wirksamen Mustererkennungsprozessen aufbaut (in Form neuronaler Attraktoren). Die rechte Hemisphäre ist in unserer Jugend und im frühen Erwachsenenalter von entscheidender Bedeutung – in einer Zeit der Wagnisse und Abenteuer, des Navigierens in unbekannten Gewässern. Die linke Hemisphäre dagegen dominiert in reiferen Jahren, in denen man neue Ereignisse und Umstände im Lichte eines erworbenen Erfahrungsschatzes sieht.
Jenseits des hier Beschriebenen gibt es noch eine andere spannende Beobachtung, die indirekt etwas mit dem Gehirn von Albert Einstein, einem der größten Physiker aller Zeiten, zu tun hat. So hatte man nach dessen Tod versucht, in seinem Gehirn neuronale Indikatoren für seine Genialität zu finden. Nun war dieses Unterfangen in gewisser Hinsicht naiv, da die bloße Neuroanatomie wenig über die Funktionalität verrät, und entsprechend fiel das Ergebnis der Untersuchungen auch sehr bescheiden aus. Dennoch fand man im Scheitellappen der Großhirnrinde, in dem unser räumliches Vorstellungsvermögen seinen Platz hat, eine signifikant erhöhte Anzahl an Gliazellen, speziell der Oligodendrozyten, die die Axone ummanteln und für eine bessere und effektivere Signalübertragung im Gehirn sorgen. Sie machen die weiße Substanz im Gehirn aus. Und in der Tat ist diese weiße Substanz beim Menschen von allen Lebewesen am weitesten entwickelt.
Wie eine Studie an 70 Männern im Alter von 19 bis 76 Jahren von George Bartzokis von der University of California herausgefunden hat, bedeutet eine bessere Isolierung der Axone eine effektivere neuronale Verarbeitung. Denn durch die Ummantelung der Axone kann die Erregungsleitung in Sprüngen erfolgen (saltatorische Erregungsleitung), was eine Geschwindigkeitssteigerung um gigantische 3000 % bewirkt. Je besser die Isolierung der Axone, desto schneller und präziser können Informationen zwischen Nervenzellen übermittelt werden.
Interessant ist nun, dass neben einer genetischen Komponente, die die Anzahl an Gliazellen im Gehirn zu bestimmen scheint (wobei Frauen mehr Gliazellen haben als Männer), in Gehirngebieten, die eine hohe Aktivität aufweisen (also trainiert werden), der Anteil der weißen Substanz zunimmt. Frauengehirne sind im Durchschnitt besser myelinisiert als die der Männer – sie leben nicht nur statistisch länger, sondern erhalten sich auch ihre kognitiven Fähigkeiten länger, und es ist eine attraktive Hypothese, dies im Zusammenhang mit der besseren Myelinisierung zu sehen. Eventuell ist das weibliche Gehirn also besser gegen den kognitiven Verfall geschützt, da die Versorgung der Nervenzellen durch die Gliazellen und die Isolierung der Axone bei Frauen besser angelegt sind als bei Männern. Früher hat man dafür eher das Östrogen verantwortlich gemacht, aber dieser Befund hat sich bislang nicht bestätigt, und es bleibt weiterhin umstritten, inwiefern das Hormon einen positiven Effekt auf die Funktion des Gehirns im Alter hat.
»Weisheit ist
die Fähigkeit zu
wissen, was man
übersehen darf.«
William James,
Psychologe
Noch eine andere Erkenntnis haben die Altersstudien der letzten Jahre hervorgebracht: Zur Weisheit gehört auch die Fähigkeit, auf schwierige moralische Fragen des menschlichen Zusammenlebens eine Antwort geben zu können. Zu nennen sind hier: Darf ein Mensch einem anderen dabei helfen, wenn dieser sich z. B. wegen einer unheilbaren Krankheit töten will? Wann darf ein Arzt die Behandlung eines älteren kranken Menschen beenden? Unter welchen Umständen ist eine Lüge erlaubt? Die Grundlage dafür ist die Fähigkeit, sich alternative Handlungsmöglichkeiten vorstellen zu können, also: »Was würde passieren, wenn ich x mache, was würde passieren, wenn ich y mache?« Vor allem gehört zu dieser Art des Denkens, das mögliche
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