Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
lebensweltliche Probleme parat, da es einiges an Lebens- oder Berufserfahrung aufzuweisen hat und vergleichbare Situationen bereits erlebt hat. Je mehr Erfahrung man hat, desto besser die unbewusste Analyse. Man bezeichnet dies als Intuition. Intuitionen können als weitreichende, komprimierte und kristallisierte Erfahrungen verstanden werden. Sie sind weder »irrational« noch spontan emotional, sondern das Produkt analytischer, meist nicht sprachlicher Prozesse, die derart stark verdichtet sind, dass ihre innere Struktur selbst demjenigen unverständlich bleibt, der sie entwirft. Vor allem aber beruhen sie auf einem Mustererkennungsprozess, bei dem das Gehirn, ohne dass es einem bewusst wird, ein zugrunde liegendes Thema (Muster) einer Situation erinnert und schnell die großen Zusammenhänge erkennen kann, ohne dass es erst viele Fakten abrufen muss. Beim Lösen von komplexen Problemen geht es also nicht um den schnellen und präzisen Abruf einer großen Fülle von exakten Fakten (hier wären jüngere Menschen schneller und besser), sondern vor allem um das Wissen, wie ein Problem gelöst werden kann, dessen grundsätzliches Muster man schon vielfach erlebt hat. Und genau das macht neben anderen Faktoren Weisheit aus: in einer komplexen Situation bestimmte bekannte Muster wiederzuerkennen, die es einem erlauben, den Verlauf einer neuen Situation zu simulieren, die Zukunft vorherzusagen und die richtigen Ratschläge zu geben bzw. Entscheidungen zu treffen.
Diese Art des Wissensschatzes bezeichnet man als implizites oder auch stilles Wissen; es ist Teil des prozeduralen Gedächtnisses und hilft bei der Lösung von Alltagsproblemen. Zu den Charakteristika dieses Wissens gehört, dass es nicht im Rahmen einer formalen Berufsausbildung erworben wird, sondern als training on the job. Und das Besondere an diesem Gedächtnissystem ist, dass trotz des Alterns des Gehirns keine Verluste zu beobachten sind. Ein »alter Hase« wird mit diesem prozeduralen Wissens aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Job sehr gut erledigen, selbst wenn einzelne kognitive Fähigkeiten nachlassen – so wie ein erfahrener Chefarzt auch im Alter noch nach schneller Durchsicht der Patientenkartei und einer kurzen Untersuchung eine treffsichere Diagnose stellen kann.
Ein individuelles Repertoire an spezifischen Mustern für bestimmte Begebenheiten oder Problemlösestrategien führt zu einem generischen Gedächtnis (Abb. 27). Das wird an einem Beispiel deutlich: Wir erkennen Gemeinsamkeiten zwischen allen Wirtschaftskrisen, selbst wenn die Auslöser völlig unterschiedlich sind. Genauso wie ein erfahrener Fußballtrainer in einer bestimmten Spielsituation aus Erfahrung weiß, wie er zu reagieren hat. Dies leitet er nicht nur aus der konkreten Situation ab, sondern auch aus all dem Wissen, dass er generalisiert (generisch) aus vorherigen Erfahrungen in vergleichbaren Situationen zusammensetzt.
Abbildung 27: Generisches Gedächtnis
Dargestellt sind die Gedächtnissysteme des Gehirns, vor allem unter dem Gesichtspunkt, ob Erinnerungen generisch oder singulär sind. Beim singulären Gedächtnissystem geht es um Fakten (Hauptstadt von Frankreich) oder singuläre autobiographische Erinnerungen, bei generischen Gedächtnisinhalten um die dem Lerninhalt zugrunde liegenden Muster.
In einem frühen Stadium des Lernens neigen Menschen dazu, ähnliche, aber nicht identische Situationen für identisch zu halten (denken wir nur an die grammatikalischen Verallgemeinerungen von Kindern). Die gemeinsamen Aspekte einer Situation werden schneller erlernt als diejenigen, in denen sich die Situationen unterscheiden. Neuronal gesprochen bedeutet dies, dass bei unterschiedlichen Reizmustern, die aber bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, die Gemeinsamkeiten schneller abgespeichert werden als die Singularitäten – kurzum, das raumzeitliche Muster der elektrischen Erregung im Gehirn weist bestimmte Ähnlichkeiten zu vorher erlebten Begebenheiten auf. So ist die allgemeine Form von Fischen schneller gelernt als die spezifische Silhouette eines ganz bestimmten Fisches. Diese Gemeinsamkeiten werden abgespeichert als generische Erinnerungen. Sie sind Erinnerungen an Muster sowohl in Wahrnehmungsstrukturen als auch ganzer Situationen bis hin zu Denkalgorithmen.
Ein erfahrenes Gehirn hat viele dieser Mustersituationen (Matrizen) abgespeichert. Man kann sogar sagen: Je generischer, also allgemeiner, ein Muster ist und je größer der Schatz an Erfahrungen ist, aus deren
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