Just Listen - Roman
hatte, und zwar wegen und durch Owen. Auch wenn ich jetzt erst in der Lage war, es wirklich wahrzunehmen.
»Mallory hatte mich gebeten, es dir zu geben, aber …«
»Aber?«
»Ich hab’s nicht gemacht, wie du siehst.«
Vielleicht hätte ich mir die Frage verkneifen sollen, tat ich aber nicht. »Warum nicht?«
»Es gefiel mir zu gut«, erwiderte er achselzuckend. »Ich wollte es behalten.«
Am Nachmittag desselben Tages brachte ich endlich den Mut auf, Andrea Thomlinson anzurufen, die Frau von der Staatsanwaltschaft. Das Bild hielt ich währenddessen in der Hand. Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Innerhalb von zehn Minuten rief sie mich zurück. Emily hatte recht: Sie war nett. Wir telefonierten ungefähr eine Dreiviertelstunde miteinander. Und als sie mich fragte, ob ich am nächsten Tag zur Verhandlung käme, falls sie mich brauchen würden, sagte ich Ja, obwohl ich wusste, was das möglicherweise bedeutete. Nachdem wir aufgelegt hatten, rief ich sofort Owen an und erzählte ihm, was ich getan hatte.
»Super!« Ich konnte an seiner Stimme hören, dass er sich aufrichtig – für mich – freute. Sie klang warm. Ichpresste den Hörer fester ans Ohr, um diese Stimme noch deutlicher zu hören. Ließ sie mich ganz ausfüllen. »Das war genau richtig.«
»Ich weiß. Aber jetzt muss ich mich vielleicht vor alle hinstellen, da im Gericht …«
»Du schaffst das.«
Ich stöhnte leicht. War mir dessen gar nicht so sicher. Was er natürlich merkte.
»Doch, du kannst das«, meinte er beharrlich. »Und falls du wegen morgen nervös bist …«
»Falls?«
»... komme ich gerne mit. Sofern du das möchtest.«
»Das würdest du tun?«
»Logo«, antwortete er. Einfach so. »Sag mir, wo und wann.«
Wir verabredeten uns für kurz vor neun am Brunnen vor dem Gerichtsgebäude. Mir war klar, dass ich auch ohne ihn nicht allein sein würde. Aber es war immer gut, Alternativen zu haben.
Ich warf einen letzten Blick auf Owens Foto von mir, bevor ich es in die Nachttischschublade legte.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer, wo meine Familie bereits auf mich wartete, blieb ich kurz stehen, um das Foto im Eingangsflur zu betrachten. Wie immer richteten sich meine Augen zuerst auf mein eigenes Gesicht, dann auf die Gesichter meiner Schwestern, bevor sie schließlich zu meiner Mutter wanderten, die zwischen uns dreien so zierlich und zerbrechlich wirkte. Doch heute sah ich das Bild in einem ganz anderen Licht.
Als diese spezielle Aufnahme entstand, hatten wir uns instinktiv um meine Mutter versammelt, um sie zu beschützen.Doch das war nur
ein
Tag gewesen,
ein
Schnappschuss. Seitdem hatten wir uns viele Male neu gruppiert. Umgruppiert. Hatten uns um Whitney geschart, selbst als sie es gar nicht wollte; Kirsten und ich waren einander dadurch nähergekommen, dass Whitney uns beide abgelehnt hatte. Bis heute war bei uns alles im Fluss, was mir an jenem Abend klar geworden war, als ich beobachtete, wie sich meine Mutter und meine Schwestern beim Essen fast wortlos versöhnten. Damals war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ich die Ausgeschlossene war. Aber das stimmte nicht. In Wirklichkeit war ich immer in Reichweite gewesen, gerade mal eine Armlänge entfernt. Ich hätte nur fragen müssen, um dazuzugehören, und sie hätten mich wie selbstverständlich wieder in ihre Mitte genommen, wo ich mich uneingeschränkt sicher fühlen konnte. Irgendwo zwischen allen anderen, behütet und beschützt.
Ich ging ins Wohnzimmer, wo meine Familie bereits vorm Fernseher saß. Zunächst bemerkte mich niemand, daher blieb ich einen Moment still stehen und betrachtete sie, alle nacheinander. Doch dann wandte meine Mutter den Kopf, entdeckte mich. Ich atmete tief durch und wusste: Egal, was für ein Gesicht sie gleich machte und was auch immer ich darin las – ich würde es tun. Musste es tun.
»Annabel.« Sie rutschte lächelnd ein Stück beiseite, um neben sich Platz zu machen. »Komm, setz dich zu uns.«
Ich zögerte. Bis mein Blick auf Whitney fiel, die mich mit ernstem Gesicht ansah. Mir fiel die Nacht vor etwa einem Jahr wieder ein, als ich die Badezimmertür aufgestoßen, einen Schalter betätigt und sie dem Licht ausgesetzt hatte. Was mit ihr passiert war, hatte mich zu Tode erschreckt.Aber sie hatte es überlebt. Deshalb sah ich sie unverwandt an, während ich mich hinsetzte.
Wieder lächelte meine Mutter mich an. Eine Welle von Traurigkeit und Angst schlug über mir zusammen, denn mir war
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