Just Listen - Roman
ihn um einen letzten Gefallen. Um etwas, das er besser konnte als jeder andere: »Denk nicht nach. Fäll kein vorschnelles Urteil. Hör einfach zu.«
»Annabel? Wir wollen demnächst mit dem Video anfangen …« Die Stimme meiner Mutter klang sehr sanft. Sie dachte, ich würde schlafen. »Bist du im Prinzip so weit?«
»Fast.«
»Okay. Wir sind dann unten.«
Gestern hatte ich Owen nicht nur erzählt, was auf der Party geschehen war. Sondern alles. Von Sophies Verhalten mir gegenüber, Kirstens Film, Whitneys schrittweiser Genesung. Dass ich mich hatte breitschlagen lassen, doch noch einen Werbespot zu drehen, mich mit meinem Vater über Geschichte unterhalten und mir letzte Nacht seine leere CD angehört hatte. Owen saß einfach bloß da und hörte zu. Lauschte eingehend jedem einzelnen Wort. Und als ich schließlich fertig war, sagte er die drei Worte, die normalerweise nichts sagen, diesmal jedoch alles.
»Tut mir leid, Annabel. Es tut mir so leid, was dir da passiert ist.«
Genau das hatte ich mir vielleicht die ganze Zeit gewünscht. Keine Entschuldigung – und ganz sicher nicht von Owen –, aber eine Würdigung. Dass jemand es einfach wahrnahm. Beachtete. Doch am meisten zählte, dass
ich
letztlich durchgehalten hatte – Anfang, Mitte, Ende. Was natürlich nicht bedeutete, dass es vorbei war.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er mich später. Wir standen bei seinem Wagen, hatten den Senderaum verlassen müssen, weil die nächste Sendung anfing, die von zwei munteren Immobilienmaklern aus unserer Gegend moderiert wurde. »Rufst du die Tante von der Staatsanwaltschaft an? Wegen des Prozesses?«
»Ich weiß es noch nicht.«
Mir war klar, dass er unter anderen Umständen keine Sekunde gezögert hätte, mich mit seiner Meinung zu dem Thema zu konfrontieren. Doch diesmal hielt er sich zurück. Fast eine Minute lang.
»Ich finde nur«, fuhr er dann schließlich doch fort, »dass man im Leben nicht häufig die Chance bekommt, wirklich etwas zu verändern. Ein Zeichen zu setzen. Das ist so eine Chance.«
»Du hast gut reden. Du machst immer alles richtig.«
»Stimmt nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich versuche nur zu tun, was ich …«
»... unter den gegebenen Umständen tun kannst, weiß ich. Aber ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe.«
»Klar stehst du das durch!«
»Warum bist du dir dessen so sicher?«
»Weil du es schon einmal geschafft hast. Du bist aufgekreuztund hast mir alles erzählt. Das ist der Hammer. Das bringen nicht viele. Aber du hast es getan.«
»Ich musste. Ich wollte dir endlich alles erklären«, sagte ich.
»Dann schaffst du es auch noch einmal. Ruf einfach diese Frau an und erzähl ihr das Gleiche wie mir.«
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Aber es geht um mehr als um einen Anruf. Was passiert beispielsweise, wenn die möchten, dass ich offiziell aussage? Ich müsste es meinen Eltern erzählen, meiner Mutter … Ich weiß nicht, ob sie das verkraftet.«
»Doch, das wird sie.«
»Du kennst sie nicht mal.«
»Brauche ich gar nicht«, antwortete er. »Annabel, du stehst vor einer superwichtigen Entscheidung. Und das weißt du auch. Also tu, was du tun musst, und sieh dann weiter. Wer weiß, wie deine Mutter reagiert? Möglicherweise erlebst du ja eine Überraschung.«
Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich wollte so gern glauben, dass er recht hatte. Und vielleicht hatte er ja auch recht.
Owen stellte seinen Rucksack auf den Boden, hockte sich daneben, wühlte darin herum. Mir kam auf einmal der Tag in den Sinn, an dem wir hinter der Schule auf der Wiese saßen und er ebenfalls in seinem Rucksack herumgekramt hatte. Damals wie jetzt hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was am Ende zum Vorschein kommen würde; was um alles in der Welt Owen Armstrong mir wohl zeigen wollte. Nach einem Augenblick zog er ein Bild heraus.
»Da. Als Inspiration.«
Es handelte sich um das Foto, das er am Abend von Mallorys Shooting von mir gemacht hatte. Ich stand imDurchgang zur Garderobe/Maske, ohne Make-up, mit entspanntem Gesicht; von hinten schimmerte gelb das Licht.
Merkst du das?
, hatte er damals zu mir gesagt.
Das bist du. Genauso siehst du aus.
Als ich das Bild in diesem Moment betrachtete, erschien es mir wie der endgültige Beweis dafür, dass ich nicht das Mädchen an Mallorys Wand war oder das aus der
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