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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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einen der tiefen Ledersessel niedergelassen. Ich setzte mich ihr gegenüber. Auch in einen tiefen Ledersessel. Es war alles etwas merkwürdig, das Mädchen, etwa zweiundzwanzig, braun, lächelnd, gelöst und doch wieder zaghaft, die vielen Bücher, der schwere Schreibtisch, der Billardtisch im Hintergrund mit den Kugeln, die einfallenden Sonnenstrahlen, der Park hinter der halboffenen Glastüre, durch die Hélène gekommen war. Mit einem älteren Herrn namens Förder. Er war tadellos gekleidet gewesen, war als Kohlers Privatsekretär vorgestellt worden, hatte mich stumm und beinahe drohend gemustert. Dann war er wieder gegangen, ohne Gruß, ohne überhaupt ein Wort gesagt zu haben. Nun waren wir allein, Hélène war verlegen. Ich auch. Die Vision ihres Vaters lähmte 68
    mich, machte mich unfähig zu sprechen. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich begriff, daß sie ihren Vater nie verstehen würde, daß sie unter der Unbegreiflichkeit seiner Handlungsweise litt.
    »Herr Spät«, sagte sie, »mein Vater hat mir immer viel von Ihnen erzählt.«
    Das überraschte mich. Ich schaute sie verwundert an: »Immer?«
    »Seit er Sie im ›Du Théâtre‹ getroffen hat.«
    »Was hat er Ihnen denn erzählt?« fragte ich.
    »Er hat sich Sorgen über Ihre Praxis gemacht«, antwortete sie.
    »Damals hatte ich noch keine«, antwortete ich.
    »Jetzt haben Sie eine«, stellte sie fest.
    »Gerade erfolgreich ist sie freilich nicht«, gab ich zu.
    »Er hat mich über den Auftrag informiert, den er Ihnen gegeben hat«, fuhr Hélène fort.
    »Ich weiß«, antwortete ich.
    »Sie nehmen ihn an?«
    »Ich habe mich dazu entschlossen.«
    »Ich bin über die Bedingungen im Bilde«, sagte sie. »Hier ist der Scheck für den Vorschuß. Fünfzehntausend. Weitere zehntausend für Spesen.«
    Hélène überreichte mir den Scheck. Ich nahm ihn, faltete das Papier zusammen.
    »Ihr Vater ist großzügig«, sagte ich.
    »Es liegt ihm viel daran, daß Sie seinen Auftrag ausführen«, erklärte sie.
    »Ich werde mir Mühe geben.«
    Ich schob den Scheck in die Brieftasche. Wir schwiegen. Sie lächelte nicht mehr. Ich spürte, daß sie nach Worten suchte.
    »Herr Spät«, sagte sie endlich stockend, »ich bin mir im klaren, daß der Auftrag, den Sie übernommen haben, seltsam ist.«
    »Ziemlich.«
    »Auch Herr Förder findet es.«
    »Glaube ich auch.«
    »Aber er muß ausgeführt werden«, verlangte sie bestimmt, fast heftig.
    »Weshalb?« fragte ich.
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    Sie schaute mich flehend an. »Herr Spät. Ich darf Papa nur einmal im Monat sehen. Dann gibt er mir Anweisungen. Seine Geschäfte sind verwickelt, aber seine Übersicht erstaunlich. Was er mir befiehlt, führe ich aus. Er ist der Vater, ich bin die Tochter. Sie verstehen doch, daß ich ihm gehorche.«
    »Natürlich.«
    Hélène wurde heftig. Ihr Zorn war ehrlich. »Der Privatsekretär und seine Anwälte wollen ihn entmündigen«, gestand sie. »Zu meinen Gunsten, wie sie sagen. Aber ich weiß genau, daß Vater nicht geisteskrank ist. Nun ist der Auftrag gekommen, den Sie übernommen haben. Er ist für den Privatsekretär ein neuer Beweis.
    Er sei sinnlos, sagte er. Aber ich bin sicher, daß dieser Auftrag nicht sinnlos ist.«
    Wir schwiegen wieder eine Weile.
    »Auch wenn ich ihn nicht verstehe«, fügte sie leise hinzu.
    »Für einen Anwalt, Fräulein Kohler«, antwortete ich dann, »hat der Auftrag, den Mord an Professor Winter unter der Annahme zu untersuchen, Ihr Vater sei nicht der Mörder gewesen, nur dann einen juristischen Sinn, wenn Ihr Vater nicht der Mörder ist. Aber diese Annahme ist unmöglich. Also ist der Auftrag sinnlos. Juristisch sinnlos, aber wissenschaftlich braucht er deshalb nicht sinnlos zu sein.«
    Sie schaute mich verwundert an. »Wie soll ich das verstehen, Herr Spät?« fragte sie.
    »Ich habe mich in diesem Raum umgeschaut, Fräulein Kohler. Ihr Vater liebte sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Bücher
    …«
    »Nur das«, sagte sie bestimmt.
    »Eben …«
    »Gerade deshalb ist er doch unfähig, einen Mord zu begehen«, unterbrach sie mich. »Er mußte auf eine schreckliche Weise dazu gezwungen worden sein.«
    Ich schwieg. Ich fühlte, daß es unanständig gewesen wäre, mit der Wahrheit wie mit einer Kanone aufzufahren. Daß ihr Vater mordete, weil er nichts als sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Studien liebte, diese abstruse, blödsinnige Wahrheit konnte ich ihr 70
    nicht klarmachen. Es war Unsinn, von meiner Vision zu reden, sie war eine Intuition, keine

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