Justiz
Geheimnisse. Mit Fräulein Giselle schlafe ich seit Wochen, mit der wackeren Monika oder Marianne, weiß der Teufel, wie sie heißt, diese Nacht. Sie sehen, es geht öffentlich genug zu. Also schießen Sie los.«
Hélène hatte Tränen in den Augen.
»Sie haben mich einmal etwas gefragt.«
»Weiß.«
»Als ich mit Herrn Stüssi-Leupin Kaffee …«
»Es ist mir vollkommen klar, was Sie meinen«, unterbrach ich sie,
»nur brauchen Sie nicht vor diesen Schuft noch ein Herr zu setzen.«
»Ich hatte damals den Sinn Ihrer Frage nicht verstanden«, sagte sie leise.
Es war auf einmal still geworden. Giselle war von meinem Schoß geglitten, schminkte sich. Ich wurde wütend, goß Williamine hinunter, bemerkte plötzlich, daß meine Haare verklebt waren, mein Gesicht schweißig, daß meine Augen brannten, daß ich mich nicht rasiert hatte, daß ich stank, die plötzliche Verlegenheit der Mädchen ärgerte mich gewaltig, es war, als ob sie sich vor Hélène schämten, als ob Heilsarmeestimmung sich ausbreitete, ich hätte alles zusammenschlagen können, die Welt war verkehrt. Hélène hätte kriechen sollen vor diesen Mädchen, sollte auch kriechen. Ich trank immer mehr Williamine, ohne etwas zu sagen, stierte einfach in das stille Gesicht vor mir mit den großen dunklen Augen.
»Fräulein Hélène Kohler«, lallte ich, mich erhebend, umständlich, schwankend, ich will Ihnen nun eine Erklärung, eine grundsätzliche Erklärung abgeben – jawohl, abgeben, das ist das richtige Wort. Ich habe Sie mit Ihrem Beischläfer – Ruhe, meine Damen – ich habe Sie, Hélène Kohler, mit Ihrem Beischläfer Stüssi-Leupin getroffen.
Stimmt. Ich habe Sie gefragt, ob Sie am Mordtag die Stewardeß gewesen seien, und zwar im Flugzeug, das den englischen Minister nach seiner jämmerlichen Insel bringen sollte. Stimmt, stimmt, 62
stimmt. Sie haben diese Frage bejaht. Und nun will ich Ihnen das Entscheidende geradeheraus ins Gesicht schleudern – jawohl, schleudern, mit Wucht, Hélène Kohler: Im Mantel des Ministers ist ein Revolver gewesen. Diesen Revolver haben Sie zu sich genommen, das haben Sie ja als Stewardeß leicht gekonnt, und dieser Revolver war die Waffe Ihres werten Herrn Papa gewesen, die nie gefundene Mordwaffe, das wissen Sie genau. Sie sind eine Mittäterin, Hélène Kohler, nicht nur die Tochter eines Mörders, sondern selber eine Mörderin. Sie sind mir verhaßt, Hélène Kohler, ich kann Sie nicht mehr riechen, denn Sie stinken nach Mord wie Ihr hündischer Vater und nicht nur nach Schnaps und Hurerei wie ich.
Sie sollen lebendigen Leibes verfaulen, ich wünsche Ihnen den Krebs in Ihre werte Gebärmutter, denn kämen Sie mit einem kleinen Stüssi-Leupin nieder, ginge es mit unserer Welt zu Ende, sie wäre zu zerbrechlich, ein solches Monstrum zu tragen. Dafür ist mir die Welt aber trotz ihrer Sünden zu schade, diesen wunderschönen Huren zuliebe, an die Sie nicht heranreichen, Gnädigste, die ein ehrliches Gewerbe betreiben und nicht ein mörderisches, meine Heißgeliebte, und nun verduften Sie gefälligst, hauen Sie ab. Legen Sie sich unter Ihren Staradvokaten …«
Sie ging. Was sich dann ereignete, ist mir nicht mehr deutlich. Ich stürzte, glaube ich, lag jedenfalls bäuchlings auf dem Boden, ein Tischchen fiel möglicherweise auch um, die Flasche Williamine lief aus (das ist ganz sicher), ein Gast mit Denkerstirne und Brille beschwerte sich, die Wirtin kam herangesegelt, eine richtige Hurenmami, Lucky, der Noble, brachte mich auf die Toilette, ich ärgerte mich plötzlich über seinen Schnurrbart, begann ihn zu schlagen, er war früher Amateurboxer gewesen, es gab Blut, ich lag im Pissoir, es war unangenehm, vor allem weil es so was faustdick aufgetragen Symbolisches an sich hatte, wie in einem schlechten Film, auf einmal kam die Polizei, Wachtmeister Stuber mit zwei Mann. Sie nahmen mich für einige Stunden auf die Wache. Verhör, Protokoll usw.
Nachschrift: Es ist festzustellen, rein technisch, daß der Versuch, 63
meine erste Begegnung mit Hélène zu erzählen, mißglückt ist. Ich erzählte meine letzte Begegnung. Daher sind in Zukunft Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Das Schreiben in alkoholischer Trunkenheit verlangt einen vorsichtigen Stil. Kurze Sätze.
Nebensätze können gefährlich werden. Syntax stiftet Verwirrung.
Dann ist ein Nachspiel festzuhalten (erhielt eben von Kohler wieder eine Ansichtskarte, diesmal aus Rio de Janeiro, herzliche Grüße, er fliege von dort nach San Francisco,
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