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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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leicht dem Größenwahn, sich einen besonderen Wert nur aus der Tatsache zuzuschreiben, daß er Liechtensteiner sei, wie dies etwa den Amerikanern, den Russen, Deutschen oder Franzosen zustoße, die a priori des Glaubens seien, ein Deutscher oder ein Franzose sei an sich ein höheres Wesen. Einer Großmacht anzugehören – und für einen Liechtensteiner seien notgedrungen fast alle anderen Staaten Großmächte, sogar die Schweiz –, bringe psychologisch für die davon Betroffenen einen bedenklichen Nachteil mit sich, die Gefahr 75
    nämlich, einem bestimmten Verhältnisblödsinn zu erliegen. Diese Gefahr wachse mit der Größe einer Nation. Er pflegte das an einem Mäusebeispiel zu erläutern: Eine Maus, die sich mit sich allein befinde, betrachte sich durchaus noch als Maus, sobald sie sich aber unter einer Million Mäusen wisse, halte sie sich für eine Katze und unter hundert Millionen Mäusen für einen Elefanten. Am gefährlichsten seien jedoch die Fünfzig-Millionen-Mäusevölker (fünfzig Millionen als Größenordnung). Diese beständen aus Mäusen, die sich zwar für Katzen hielten, aber gerne Elefanten wären. Dieser übersteigerte Größenwahn sei nicht nur für die davon betroffenen Mäuse gefährlich, sondern jeweils auch für die ganze Mäusewelt. Das Verhältnis jedoch zwischen der »Mäuseanzahl« und dem von dieser erzeugten Größenwahn nannte er das
    »Schönbächlersche Gesetz«. Als Beruf gab er Schriftsteller an. Das mochte insofern erstaunen, als er weder einmal etwas veröffentlicht noch je etwas geschrieben hatte. Er leugnete es nicht. Er nannte sich nur schlicht einen »potentiellen Schriftsteller«. Er war um eine Erklärung seines Nichtschreibens nie verlegen. So behauptete er gelegentlich, die Schriftstellerei beginne mit dem »Sinn für Namen«, das sei ihre primäre poetische Bedingung, dazu komme ihre nicht minder moralische, die in der Wahrheitsliebe begründet liege.
    Überdenke man nun diese beiden Grundbedingungen, so werde klar, daß zum Beispiel ein Titel, ›Gedichte von Raoul Schönbächler‹, allein schon durch die Vorstellung unmöglich gemacht würde, diese Lyrik müsse wie ein schönes Bächlein dahinplätschern. Man könne freilich einwenden, dann sei der Name Schönbächler zu ändern, doch dann komme man mit dem Prinzip der Wahrheitsliebe in Konflikt.
    Wo Schönbächler auftauchte, gab es zu lachen. Er war ein guter Kerl, von dem in den Gaststätten viele lebten. Die Zeche ließ er aufschreiben, man schickte ihm die Rechnung jeden Monat zu, was sich zusammenaddierte, mußte beträchtlich sein. Hinsichtlich seines Einkommens war man im unklaren. Seine Angaben über ein großzügiges liechtensteinisches Staatsstipendium konnten natürlich nicht stimmen. Einige behaupteten, er sei der Generalvertreter gewisser Gummiartikel. Auch war nicht zu übersehen, daß er vieles wußte und ein scharfes, stets sorgfältig begründetes Urteil besaß.
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    (Vielleicht war sein Nicht-Schreiben nicht nur Faulheit, wie es schien, vielleicht steckte die Einsicht dahinter, es sei, im Gegensatz zu den vielen, die produzieren, besser, nichts zu produzieren.) Am berühmtesten war jedoch seine Fähigkeit, Gespräche anzuknüpfen, um so mehr als diese Kunst unseren Mitbürgern nicht liegt.
    Schönbächler dagegen beherrschte sie virtuos. Anekdoten wurden erzählt, Legenden bildeten sich. So soll er auf eine Wette hin (wie der Kommandant steif und fest behauptet) einen Bundesrat, der am Nebentisch mit Mitgliedern der Kantonsregierung beim Vieruhrtee saß, derart in ein Gespräch über die Beziehungen unseres Staates zu Liechtenstein verstrickt haben, daß der Magistrat den Schnellzug nach Bern verfehlt hätte. Möglich. Doch ist den Bundesräten im allgemeinen nicht so viel zuzutrauen. Schönbächler galt im übrigen als harmlos. Daß er Lienhards Agent war, ließ sich niemand träumen.
    Als es bekannt wurde, war die Bestürzung groß, Schönbächler verließ unsere Stadt und lebt nun mit seiner Diskothek in Südfrankreich, sehr zum Leidwesen unserer Mitbürger, erst letzthin drohte mir einer mit der Faust, zum Glück war ich mit Lucky. Dieses Original nun, Schönbächler, tauchte eines Tages im ›Du Théâtre‹
    auf, zur allgemeinen Verwunderung, denn er war sonst dort selten zu sehen. Er bezog einen Tisch und blieb den ganzen Tag. Am nächsten Morgen kam er aufs neue, so eine Woche lang, plauderte mit allen, befreundete sich mit dem Chef de Service und den Kellnerinnen, doch dann verschwand

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