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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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er behauptete. Ihre Wohnung in der Aurorastraße blieb leer, die Miete wurde bezahlt. Von wem, war nicht auszumachen. Dann war sie wieder aufgetaucht. In ihrer alten Pracht. Wie wenn nichts geschehen wäre, wenn auch mit neuem Gefolge. Was sie verschwenderisch getrieben hatte, betrieb sie nun beruflich. Von ihren Freunden im Stich gelassen, machte sie nun in ihrem weißen Mercedes die Runde, verlangte horrende Preise und kam finanziell wieder auf die Beine. Auch nach Abzug der Steuern, Gemeindesteuer, Staatssteuer, Wehrsteuer, Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Es galt als chic, mit ihr zu schlafen; es ist überflüssig, episch zu werden. Nur daß sie einmal bei mir erschien, will ich nicht verschweigen: Sie klopfte gegen zwei Uhr nachts an meine Wohnungstür in der Spiegelgasse. Ich kroch von der Couch, auf der ich schlief, dachte, es sei Lucky, machte Licht, öffnete, und sie trat ein. Sie schaute sich um. Das Fenster halb offen, das Zimmer eisig (es war Mitte Februar), an der kitschigen Tapete wieder die ›Beobachter‹-Bilder, auf dem Schreibtischsessel meine Kleider, auf dem Lehnstuhl mein Mantel. Sie trug einen Chinchilla –
    das mit den Preisen mußte wahr sein, oder die »echte« Steiermann zahlte noch immer –, zog sich aus, warf alles auf den Lehnstuhl und legte sich auf die Couch. Ich legte mich zu ihr. Sie war schön, und es war kalt. Sie blieb nicht lange. Sie zog sich wieder an, griff dann nach ihrem Chinchilla und legte einen Tausender auf meinen Schreibtisch. Als ich protestierte, schlug sie mir mit der rechten Hand mit aller Kraft ins Gesicht. Solche Geschichten erzählt man nicht gern, und ich habe sie auch niemandem erzählt. Wenn ich sie jetzt niederschreibe, so nur, weil mir die Felle davonschwimmen.
    Heute morgen, kurz vor sechs, war Freund Stuber von der Sitte bei mir und berichtete, man hätte Lucky und den Marquis bei Zollikon aus dem See gezogen (die Steiermannsche Villa ist nicht weit von der Fundstelle). Ich war etwas beleidigt, als der glückliche Stuber 116
    wieder ging: Er hatte mir nicht einmal Fragen gestellt, wenigstens einen vom Morddezernat hätte mir der Kommandant schicken können. Lucky und der Marquis hatten sich nicht schnell genug ins Ausland abgesetzt. So begann unser Nationalfeiertag, der Erste August 1958, recht trübselig. Außerdem war es ein Freitag, außerdem wurde Daphne beerdigt, die Gerichtsmedizin hatte sie zur Beerdigung freigegeben. Um zehn Uhr. Am Ersten August arbeitet man am Vormittag, auch die Totengräber, ein ganzer Nationalfeiertag ist für einen Kleinstaat zuviel, er kennt seine Dimensionen. Ich hatte eben mein Zimmer verlassen, als es donnerte, wie überhaupt die Gewitter in diesem Sommer etwas Alltägliches sind. Mein VW ist in Reparatur. (Ich hatte irgendwo über einem See gegessen, war dann unter einem wilden Nachthimmel mit meinem Porsche – na ja, Herr Staatsanwalt, um auch das zu beichten –, ich schlitterte mit ihm und mit Madeleine [war's Madeleine?] irgendwo vom Tüfweg ab in ein Gehölz, Lucky brachte die Sache in Ordnung, die Kleine lag zwei Monate im Spital, und ich hatte meinen alten VW wieder. Hatte. Ich hatte ihn wieder gehabt. Ich hätte ihn zwar längst holen können, aber habe beim Garagisten keinen Kredit mehr.
    Ich fürchte mich vor der Rechnung.) So mußte ich denn mit der Straßenbahn zu Daphnes Beerdigung fahren. Warum ich freilich die Türfalle des Vereinssälchens der Heiligen vom Uetli niederdrückte und warum ich, als die Tür sich öffnete, einen der beiden Schirme ergriff, die ich vor sechs Tagen hineingestellt hatte, ist nicht mehr auszumachen. Geschah es aus Gedankenlosigkeit oder aus einem makabren Humor heraus, ich weiß es nicht mehr. Der Himmel war schon tiefschwarz, obwohl es erst halb zehn war, als ich durch die Altstadt zum Bellevue lief, den Schirm wie einen Stock benutzend.
    Alles war nervös, und ich hatte es eilig wie vor jedem Gewitter, und das hereinbrechende mußte ein besonderes sein, weil es ja erst Vormittag war. Typisch Daphne, dachte ich. Beim Bellevue nahm ich die Straßenbahn. Eigentlich war es unter diesen Wetterbedingungen Unsinn, zur Beerdigung zu gehen, aber ich stieg gleichsam mechanisch in den überfüllten Tramwagen. Hin und wieder durchbrach die Sonne die schwarze Wolkenwand, sie war dann wie ein Scheinwerfer, der aufleuchtete und erlosch. Am 117
    Kreuzplatz stieg ein schwerer, schwarz gekleideter, eher kleingewachsener Mann mit leuchtender Glatze, gepflegtem schwarzem Vollbart mit

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