Justiz
weißen Strähnen und mit einer goldenen randlosen Brille in den Wagen. Ich glaubte zuerst unwillkürlich, es müsse sich um den ermordeten Winter handeln, der als Gespenst wiederkehre, um dem Begräbnis seiner Tochter beizuwohnen, so sehr glich der Mann dem Verstorbenen, auch trug er einen Totenkranz, dessen Schleife ich freilich nicht zu lesen vermochte. Im Friedhof waren schon viele versammelt. Die ganze Prominenz war anwesend, gegen Nostalgie ist niemand gefeit, von ihren neuen Kunden war niemand erschienen. Aber Daphne Müller war nicht der einzige Grund, diesen Vormittag unseren schmuck angelegten städtischen Friedhof zu besuchen. Im Grab neben ihr wurde Staatsanwalt Jämmerlin der Ewigkeit übergeben. Auch sein Ableben wurde allgemein bedauert, gibt es doch nichts Traurigeres, als sich nicht mehr ärgern zu können. Zum Glück mischte sich in die Trauer Schadenfreude. Sein Ende entbehrte nicht der Komik. Er war in der Sauna, die er wöchentlich besuchte, nackt neben den nackten Lienhard zu sitzen gekommen und nicht mehr imstande gewesen, den Schreck zu überleben. So trauerte man auf den Stockzähnen.
Auch die gleichzeitigen Beerdigungen hatten ihr Gutes. Man konnte an beiden zusammen teilnehmen. Ich überlegte, wer zu wessen Beerdigung gekommen war, der Stadtpräsident, Staatsanwalt Feuser und einige freigesprochene Unzüchtler, weil sie den Verstorbenen noch im Grab ärgern wollten, zu Jämmerlins, Lienhard, Leuppinger, Stoss und Stüssi-Leupin zu beiden, Friedli, Lüdewitz, Mondschein dagegen wohl nur zur Beisetzung Daphnes. Jedermann hatte einen Schirm bei sich. Pfarrer Senn stand an Daphnes, Pfarrer Wattenwyl an Jämmerlins Grab. Beide startbereit. Ich wartete ungeduldig, trat von einem Bein aufs andere. Es donnerte. Doch weder Pfarrer Senn noch Pfarrer Wattenwyl begannen zu beten. Der ältere Mann, dem ich im Tram begegnet war, hatte seinen Kranz niedergelegt (es war sonst kein anderer beim Sarg), SEINER HALBSCHWESTER DAPHNE, HUGO WINTER. Es mußte sich um den Primarschullehrer Winter handeln. Es donnerte wieder, diesmal ein gewaltiges Krachen. Ein Windstoß. Alles wartete und wartete, sogar die vom Nachbargrab 118
sahen zu uns herüber, man wartete auf etwas, ich wußte nicht worauf, bis ich begriff: Vom Eingang des Friedhofs her wurde auf einem Rollstuhl die »echte« Monika Steiermann von einer hageren Krankenschwester in Marschschritten an den Sarg gestoßen. Die Zwergin hatte sich grell geschminkt, auf ihrem Kopf saß eine zinnoberrote Perücke, den Haaren Daphnes nachgebildet, eine Perücke, die den Kopf des kleinen Wesens noch größer machte, dazu trug sie einen Minirock, der wie ein Kinderkleid wirkte, mit einer Perlenkette, die zwischen den verkrüppelten Beinchen über den Rollstuhl hing, auf dem Schoß hielt sie einen Gegenstand, der in ein schwarzes Tuch gewickelt war. Neben ihr schritt ein gedrungener Mann in einem dunklen Anzug, der zu kurz und zu eng war, der schwerreiche Grobian, Nationalrat Äschisburger. Er schleppte einen Kranz hinter sich her. Sogar der Stadtpräsident und Feuser, ja auch die Totengräber verließen das Grab Jämmerlins und wechselten zu Daphne Müllers hinüber. Pfarrer Wattenwyl stand allein. Er wäre wohl am liebsten auch gekommen. Erneutes Krachen, erneute Böen.
»Verflixt«, sagte jemand neben mir. Es war der Kommandant.
Die Krankenschwester hatte die Steiermann ans offene Grab gefahren, Äschisburger warf den Kranz auf den Sarg, MEINER
EWIG GELIEBTEN MONIKA, IHRE MONIKA stand auf der Schleife.
Pfarrer Senn trat vor, zuckte zusammen, als es wieder donnerte, und alle Anwesenden traten näher. Ich wurde wider Willen unmittelbar hinter die Steiermann gedrängt und befand mich zwischen der Krankenschwester und dem Kommandanten, vor diesem befand sich Äschisburger, und vor der Krankenschwester Stüssi-Leupin. Der Sarg wurde ins Grab gesenkt. Am Nebengrab war niemand, Jämmerlins Sarg ins Grab zu senken, Pfarrer Wattenwyl sah noch immer zu uns herüber, Pfarrer Senn öffnete zaghaft die Bibel, kündete Johannes 8, Vers 5 bis 11 an, kam aber nicht dazu, den Text auch zu lesen. Monika Steiermann hielt den Gegenstand, den sie trug, hoch und schmetterte ihn mit einer Kraft, die ihr niemand zutraute, ins Grab, so daß er mit Wucht auf Daphnes Sarg polterte, durch den er krachend brach: Es war der bronzene Kopf von Mocks »falscher« Monika Steiermann. Pfarrer Wattenwyl kam 119
herbeigestürzt, und Pfarrer Senn war so erschrocken und verwirrt, daß er automatisch
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