Justiz
Kommandant habe auch nur gefragt, und? Dann habe er sich eine Zigarre angezündet und gesagt, alter Schnee. Benno habe sich das Leben genommen, nachträglich festzustellen, wer nun geschossen habe, oder gar die Themse nach dem Revolver abzusuchen, unmöglich, es gebe Fälle, wo die Justiz ihren Sinn verloren habe, zur bloßen Farce werde. Sie solle wieder gehen, er vergesse, was sie ihm erzählt habe. Warum ihr Vater Spät nicht einmal erwähnt habe, fragte ich. Er habe ihn vergessen. Stüssi-Leupin auch, sagte ich. Es sei merkwürdig, antwortete sie, ihr Vater bilde sich ein, Benno, nicht er, habe den Mord begangen. Sie sei die einzige, die noch wisse, daß ihr Vater der Mörder gewesen sei. Ob sie denn das genau wisse, fragte ich, es sei zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht sei es doch Benno gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Es sei ihr Vater gewesen. Sie habe den Revolver untersucht, den sie der Manteltasche des Ministers entnommen und zu Hause selber geladen habe.
Warum sie mir das alles erzähle, fragte ich. Sie schaute mich erstaunt an. Wozu in aller Welt ich ihr das Manuskript denn zugeschickt habe? Nur um hinter die Wahrheit zu kommen? Ich sei vor allem ein Schriftsteller, der nicht an der Wahrheit der anderen, sondern an seiner eigenen interessiert sei, mir gehe es darum, einen Roman zu schreiben, und um nichts anderes, und erscheine einmal 165
das Buch, so werde es unter meinem Namen erscheinen, nicht unter jenem Spats. Ob das Manuskript von Spät sei oder von mir, wisse nur ich, ich behaupte, es vom Kommandanten bekommen zu haben.
Sie habe den alten Schwafler auch gekannt, er sei oft bei ihrem Vater und ihr zu Gast gewesen und habe aus der Schule geplaudert. Das könne er auch bei mir getan haben. Aber wenn ich sie schon benutze, so solle ich sie nicht wie ein goethisches Frauenzimmer beschreiben, die man samt und sonders verprügeln sollte, so langweilig seien sie, außer Philine, der einzigen von seinen Geschöpfen, mit welcher der alte Herr gern geschlafen hätte. Dann blickte sie starr vor sich hin.
Vor dem Fenster ging pfeifend der Gärtnerjunge vorbei. Ob ich hinausfinde? Ich verabschiedete mich. In seinem Arbeitszimmer spielte der Alte immer noch Billard. A la bande.
Vier vor zwei. Ich trete vor mein Arbeitszimmer. Als ich es anlegen ließ, sah ich von ihm aus den See. Nun versperren Bäume die Sicht. Einige von ihnen mußte ich schon fällen, die noch nicht waren, als ich hierher zog. Es ist traurig, Bäume fällen zu müssen, man mordet sie. Die Eiche ist mächtig geworden. An den Bäumen spüre ich die Zeit, meine Zeit. Anders als ich sie am Himmel erspähe. Mit einem gewissen Bedauern sehe ich schon die Plejaden, Aldebaran, Kapella, Wintersterne, und doch ist es noch Sommer, ein Anzeichen, in einem Drittel des Jahres ein Jahr älter geworden zu sein. Am Himmel spult sich die objektive Zeit ab, die meßbare Zeit eines bald Fünfundsechzigjährigen, mit den Bäumen wächst sie mit mir subjektiv dem Tod entgegen, nicht mehr meßbar, nur noch spürbar. Aber wie empfindet die Erde die Zeit? Ich schaue auf den nächtlichen See, er hat sich nicht verändert, sieht man von dem ab, was ihm die Menschen antaten. Doch wie alt empfindet sich die Erde? Objektiv? Uralt? Viereinhalb Milliarden Jahre alt? Oder fühlt sie sich subjektiv im besten Alter, da es noch sieben Milliarden Jahre dauern könnte, bis sie von der Sonne verglüht wird? Oder fühlt sie die Zeit in Blitzgeschwindigkeit, fühlt sie sich als ungeduldige ungestüme Kraft, kocht sie sich zusammen, sprengt sie Kontinente auseinander, stemmt Gebirge hoch, schiebt Schichten übereinander, 166
schwemmt Meere übers Land, ist unser Wandel über einen sicheren Boden in Wirklichkeit ein Gehen über einen schwankenden Boden, der sich jederzeit zu öffnen und uns zu verschlingen vermag? Und wie ist es mit der Zeit der Menschheit beschaffen? Wir haben sie so objektiv wie möglich gemessen und eingeteilt in Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Neueste Zeit, eine noch neuere erwartend, ja, es gibt noch delikatere Einteilungen, wie etwa die, daß auf das Vermächtnis des Ostens das Zeitalter der Griechen folgt, daß sich daran Cäsar und Christus schließen, gefolgt vom Zeitalter des Glaubens, fröhlich läutet die Renaissance das Zeitalter der Reformation ein, und dann ist das Zeitalter, in welchem die Vernunft anhebt, nicht aufzuhalten, sie hebt sich bis heute an, sie hebt und hebt, seien wir nicht kleinlich, der Erste und der Zweite
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