K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
empfahl ihm am Telefon, sich an die Vermisstenstelle der Polizei zu wenden, wenn es auch zu nichts führen würde, er müsse seiner formellen Pflicht als Vater nachkommen. Er diktierte ihm die Adresse der Polizeidienststelle in der Rua Brigadeiro Tobias. K. sprach ihn auf das Verschwinden von zwei jüdischen Medizinstudenten an. Ja. Es stimmte. Eine der Familien hatte bereits Kontakt zu ihm aufgenommen. Und was würde er unternehmen? Nichts. Bei politisch motivierten Verhaftungen war es den Gerichten untersagt, Habeas-Corpus-Gesuche anzunehmen. Da gibt es nichts, was ein Rechtsanwalt tun kann. Nichts. Das ist die Sachlage.
Auf der Polizeiwache stellten sie dem Alten nur wenige Fragen. Bei den meisten vermissten Personen handele es sich um Jugendliche, die vor betrunkenen Eltern und prügelnden Stiefvätern flohen. K. erklärte, dass seine Tochter Dozentin an der Universität war, einen Doktorgrad besaß, finanziell unabhängig war und allein lebte. Sie hatte ihr eigenes Auto; könnte es vielleicht etwas Politisches sein?
Er wollte dem Polizeikommissar gegenüber nicht zu sehr ins Detail gehen, die Frage nur im Raum stehen lassen. Deshalb gab er ihm auch nicht die Adresse der Rua Padre Chico, nannte seine eigene Anschrift als die ihre und die Anschrift seines Ladens als die seine. Unmerklich kehrte K. zu vergessenen Gewohnheiten aus seiner konspirativen Jugendzeit in Polen zurück. Der diensthabende Kommissar war nicht angetan von dem Gespräch. Jede Einmischung in politische Fälle war ihm untersagt. Doch aus Mitleid nahm er die Anzeige entgegen. K. solle abwarten und nichts von Politik verlauten lassen.
Nach ihr suchen? Nein, die Polizei hatte alle Hände voll zu tun; eine Hochschuldozentin, über dreißig, erwachsen und für sich selber verantwortlich. Er möge abwarten, ein Rundschreiben mit Lichtbild ginge an sämtliche Polizeidienststellen. Falls er innerhalb von fünf Tagen keine Nachricht erhielte, könne er es bei der Gerichtsmedizin versuchen, wo die nicht identifizierten Leichen der Opfer von Verkehrsunfällen und anderen Unfällen eingeliefert wurden. Es klang verlegen.
So nahm das Schicksal des alten Vaters, dessen Verzweiflung von Tag zu Tag zunahm, der kaum noch Schlaf fand, seinen Lauf. Am zwanzigsten Tag, nachdem er ein zweites Mal erfolglos auf dem Campus und in der Padre Chico gewesen war, wandte er sich an seine Freunde vom Literaturkreis; an dieselben, die er, als seine Nerven blank lagen, verflucht hatte. Wer weiß, vielleicht kannten sie ja jemanden, der wiederum jemanden kannte – bei der Polizei, beim Heer, beim Geheimdienst oder wo auch immer in diesem System, das Menschen verschlang, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit Ausnahme des Rechtsanwalts waren es arme Schlucker, die keine einflussreichen Leute kannten. Der Anwalt erwähnte vage einen Vorsteher der Gemeinde in Rio de Janeiro, der Zugang zu den Generälen hatte. Er würde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen.
K. zählte die Tage seit dem Verschwinden seiner Tochter und stellte Berechnungen an, auch ein Überbleibsel aus seiner Jugendzeit. Und es verging kein Tag, an dem er nicht versucht hätte, etwas für seine Tochter zu tun. Er konnte schon gar nichts anderes mehr tun. Um schlafen zu können, schluckte er Schlaftabletten. Nachdem fünfundzwanzig Tage vergangen waren, nahm er all seinen Mut zusammen und stattete dem Institut für Rechtsmedizin einen Besuch ab.
Er erzählte von dem unerklärlichen Verschwinden seiner Tochter, ohne das Wort Politik in den Mund zu nehmen. Er zeigte das Foto, auf dem sie mit feierlicher Miene ihr Diplom entgegennahm. Danach zeigte er ein zweites, auf dem sie anders aussah, abgemagert, mit leidendem Blick. Nein, die Angestellten brachten dieses Gesicht nicht in Verbindung mit den wenigen Frauenleichen, die in letzter Zeit eingeliefert worden waren, alles Schwarze oder Farbige. Fast alles Elendsfiguren. Um ehrlich zu sein, es ist bestimmt schon über ein Jahr her, dass ein nicht identifizierter weißer Frauenkörper in die Rechtsmedizin überführt wurde. Erleichtert verließ K. das Institut; die Hoffnung, dass sie noch am Leben war, blieb bestehen. Aber die Fotografien der Elenden und Unbekannten in dem Album deprimierten ihn. Nicht einmal zur Zeit des Krieges in Polen war er auf so übel zugerichtete Gesichter und vor Schreck geweitete Augen gestoßen.
Beharrlich begann er nun, Kunden, die in den Laden kamen, um ihre Raten abzuzahlen, Nachbarn aus seiner Straße und sogar Unbekannte anzusprechen.
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