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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Brüder hast du?«
    Einen Moment später antwortet Timothy: »Ich habe zwei Brüder.« Seine Stimme ist etwas tiefer als ihre; das Z klingt eher nach einem Summ- als einem Zischlaut. Als er zu sprechen beginnt, zucken die seitlich herabhängenden Hände leicht, dann klammern sie sich an den Stoff seiner Shorts, als zwängen sie sich mit Gewalt zur Ruhe.
    »Prächtig! Und jetzt sagt mir beide, Felicity und Timothy: Welches Gedicht habt ihr zuletzt auswendig gelernt?«
    Die Kinder erwidern zusammen, wenn auch leicht versetzt: » Der Schäferkalender .«
    »Sagt unseren Freunden hier die ersten beiden Strophen auf«, weist Karrefax sie an. Die Kinder kehren sich voneinander ab, Karrefax ermuntert Felicity mit einem Kopfnicken, und sie deklamiert:
    Cuddie, Dein schweres Haupt heb nun,
Und lass uns sinnen, mit welch Entzücken
Wir Phöbus’ lange Himmelsjagd vertun.
Einst wolltest Du die Schäferjungen führn
Im edlen Wettstreit, im Reime-, Rätselspiel…
    Sie spricht langsam und formuliert mit Sorgfalt; wieder bleiben die Worte hängen, sie dehnen und ziehen sich, sie zischen. Die Eltern angehender Schulkinder beugen sich auf den zu kleinen
Stühlen vor und versuchen angestrengt, die Bedeutung des Gesagten zu erfassen. Dadurch entsteht der seltsame Eindruck, das Gedicht würde von einem anderen Sprecher vorgetragen, der sich außerhalb des Blickfeldes verbirgt – irgendwo seitlich vom Podium, vielleicht auch darunter. Einige Eltern blicken verwirrt im Zimmer umher. Als Felicity aufhört, nickt Karrefax dem Jungen zu, und Timothy beginnt:
    Piers, so eifrig spielte ich die Hirtenflöte einst,
Dass sie nun ganz abgenutzt und tonlos scheint.
Verausgabt hat sich meine Muse,
Im Austausch für nur wenig Gutes,
Solch Kurzweil macht die Grille matt
Und blass, wo doch der Winter naht…
    Wie zuvor bei Felicity scheinen seine Worte nicht aus ihm selbst zu kommen, sondern ihn gleichsam zu durchdringen – als ob sein Mund, wenn er sich nur korrekt formte und diese Haltung lang genug einnähme, einen Ton empfinge, der von woanders ausgesandt wurde, aus Erie, einer anderen Ära, für ein anderes Ohr.
    II
    Nebenan, im Klassenzimmer Zwei, genießt Simeons Sohn Serge den stillen Morgen und spielt mit Holzklötzchen. Er sitzt auf dem Boden, den anders als die nackten Holzdielen im Klassenzimmer Eins ein Teppich bedeckt. Durch das Erkerfenster fällt in langem Strahl das Licht der frühen Sonne, überspringt die gemütliche, ins Halbrund des Fensters eingelassene Sitzbank und landet gemach auf kringeligen Teppichfasern, steigt wieder auf und schwebt über Flaschen und Gläser, in denen
etikettiertes Spielzeug – Pferde, Autos, Clowns und Akrobaten – aufbewahrt wird. Von einem niedrigen Tisch breiten sich weitere, an keinem Spielzeug haftende Etiketten aus, streuen Wortfetzen über den Boden.
    Die hölzernen Klötzchen sind mit geometrischen Figuren bemalt wie Würfel mit Zahlen: Quadrate, Dreiecke, Kreise, aber auch andere, komplexere Formen. Auf einer Seite jedes Klötzchens (bei einem Würfel zeigte sie die Zahl Sechs) sind mehrere dieser geometrischen Figuren zu einem Bild vereint – ein Radfahrer, ein Haus, ein Nilpferd oder auch ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht. Serge hat den Zauberer über den Radfahrer gestapelt, darüber einen Metzger, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine Wurstkette, die er, wie der Zauberer sein Kaninchen, gleichsam zur Inspektion hochhält. Alle Abbildungen erscheinen im Profil, flach; die aus Rechtecken und Segmenten bestehende Landschaft, durch die der Radfahrer rollt, ist so platt wie die runden Reifen, über denen sein trapezförmiger Körper sitzt – als wäre er selbst in seiner gemalten Klötzchenwelt nur ein ausgeschnittener Pappkamerad vor einem Bühnenbild. Serge betrachtet die Kombination eine Weile nachdenklich, hält dann Radfahrer und Zauberer fest, zieht den Metzger heraus und ersetzt ihn durch das große, runde Nilpferd, das sich, wiederum im Profil, in einem elliptischen Schlammloch suhlt. Serge stützt diese neue vertikale Reihe, mustert sie gedankenverloren und löst, da er mit ihr zufrieden ist, die Hände vom Stapel. Kaum hat er das getan, beginnt die Säule zu wackeln, das vereinte Gewicht von Nilpferd, Schlamm, Kaninchen und Zauberer sind für den solcherart beladenen Radfahrer zu viel, der außerdem durch den weichen, unebenen Grund unter seinen Reifen benachteiligt ist. Als die Klötzchen purzeln, blitzen in rascher Folge Rhomben, Trapeze und

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