K
eigenen Abgase. Das Muster, das entsteht, wenn Bahnen sich kreuzen, Linien in überraschenden Winkeln andere Linien schneiden oder Wattebauschwölkchen zerteilen und merkwürdige Gebilde formen, erinnert Serge an die phonetischen Zeichen, die sein Vater im Klassenzimmer an die Weißwandtafel schrieb, an die Art, wie die Sequenzen sich überlappten, wie sie ineinanderliefen. Die untere Hälfte dieser Tafel hier ist so voll, dass sie flächendeckend beschrieben wirkt, die leichte Dunstschicht des Morgens nun ein opaker Schal. Sie müssen tiefer gehen, um sehen zu können, wo die Granaten landen, oder auch nur, um sich zu orientieren. Einmal taucht direkt neben ihnen eine Haubitzengranate auf, fliegt in dieselbe Richtung – eine ihrer eigenen; wie ein Tümmler, der neben einem Schiff herschwimmt, steigt sie aus dem Rauchmeer auf, dreht sich langsam in der Luft und zeigt, auf dem Höhepunkt ihrer Flugbahn, den Unterbauch, ehe sie dann zum Sinkflug ansetzt. Sie ist so nah, dass ihr Luftzug die Maschine hebt und senkt, sie träge auf und ab wogen lässt. Serge weiß, dass Flugzeuge von eigenen Geschossen getroffen werden, doch diese da wirkt so harmlos, so umgänglich – und
außerdem: Wenn sie beide mit derselben Geschwindigkeit fliegen, sind sie nur Projektile im Raum, harmlose Materiemasse. In dem Augenblick, ehe sich ihre Wege trennen, kommt es Serge vor, als seien Granate und Flugzeug austauschbar – als seien er und die Granate austauschbar, so wie die Radianten und Sekanten auf seiner Karte, die Rauch-und-Dunst-markierten Punkte und Flugbahnen um ihn herum, die Winkel, in denen sie ihre Quadranten absuchen und die sich ändernden Popham-Tuchstreifen. Innerhalb dieser Grenzen wird Raum zur puren Geometrie, die Granate zu einem Stift, der einen perfekten Bogen über Millimeterpapier zieht; er selbst ist die Klammer, die den Bleistift an den Kompass bindet und sich mit dem Blei bewegt; er ist das Blei, schmiert eine Spur über das Papier, um selbst zu Geometrie zu werden…
Auf dem Rückweg zur Basis beharken sie die deutschen Schützengräben. Gibbs hält den Kurs, Serge zielt mit dem Lewis-MG nach unten und schwenkt es hin und her, bis er den Lauf in ihre Rillen zu senken meint. Ein sechster Sinn sagt ihm, wann er sie gefunden hat. Irgendwie spürt er es, wenn er in der Spur ist, und kaum ist es so weit, beginnt sie zu spielen, die immer gleiche Melodie: Dass EU-re SOR-gen SEIN den MEE-ren KUND … Feindfeuer knistert wie wütende Störgeräusche zu ihnen herauf. Sie streifen die Grenzen ihres Gebiets, wenden und kehren hinter die eigenen Linien zurück. Über dem Niemandsland hängt dichter Korditrauch, der schwere, lebrige Geruch der Heimkehr. Aus dem gelandeten Drachenballon wird die Luft abgelassen, die Popham-Tücher sind eingerollt. Der Wald am Flugfeld rauscht beim Überflug, die Pappeln biegen sich in die andere Richtung. Gibbs drückt die Flügel nach unten, der Bodenwiderstand bremst sie aus; und sie rollen über die Bahn zu den Bessoneaus. Serge springt aus der Maschine, noch ehe sie steht und die Mechaniker sie mit Klötzen und Stricken gebändigt
haben. Cognacflasche und Brottrommel unterm Arm, schlendert er auf die Nissanhütten zu.
»Rapport, Karrefax.« Der hinter einem mit Papierstapeln überhäuften Tisch am Ausgang des Hangars sitzende Adjutant hält ihn zurück.
»Wie?«, fragt Serge, zieht einen Handschuh aus und fährt sich über das Gesicht.
»Rapport fürs Korpshauptquartier. Jedes Mal muss ich Sie daran erinnern.«
»Ach so«, sagt Serge. »Na ja...« In seiner Hand hat sich ein dicker Klumpen Öl gesammelt. Er sieht ihn an, dann den Adjutanten. »Wir sind rauf, haben was gesehen; und es war gut.«
II
Als sie eines Tages von der Front kommen, im Zickzackflug vor blauschwarzen Gewitterwolken her, landen Serge und Gibbs auf einem fremden Flugplatz. Sie sind sich ziemlich sicher, dass es kein deutscher ist: Die Regenschauer, die auf die Erde prasseln, leuchten golden, winzige Regenbogen werden sichtbar, also mussten sie nach Westen geflogen sein – aber so ganz genau weiß man das ja nie. Die Maschinen auf dem Platz sind jedenfalls keine RE8 und keine SE5, außerdem prangen Störche am Rumpf. Als Serge und Gibbs aus ihrer Kiste steigen, grüßt man sie in fremder Sprache.
»Perdu la route …«, ruft einer der Männer.
»Oh, Scheiße!«, knurrt Gibbs. »Lenk sie ab; ich steig wieder rein und hol meine Pistole. Wir können abheben, bevor die Männer aus den Baracken
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