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Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)

Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)

Titel: Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blum
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Punkt. Wir Pilger sind optimistische Menschen. Im Judentum ist der Tempelberg der Mittelpunkt der Welt und die wichtigste Gebetsstätte, an der man Gott am nächsten ist. Für Muslime ist ein kleines würfelförmiges Gebäude in Mekka, die Kaaba, der heiligste Ort. In der psychischen Geographie der Gläubigen hat er eine so beherrschende Position inne, dass sie sich fünfmal am Tag beim Beten Richtung Mekka wenden, selbst wenn sie gerade im Flugzeug einen Ozean überqueren. Jeder Kult, jede Gruppe, Gemeinschaft, Gang, Gesellschaft, Gilde und so weiter hat einen solchen mit Erinnerungen und Bedeutung getränkten Ort. Und die meisten von uns haben ihre ganz eigenen, besonderen Orte, ob es nun die Heimatstadt, ein Stadion, eine Kirche, ein Strand oder ein Berg ist, der episch über unserem Leben aufragt.
    Doch diese Bedeutung ist in gewisser Hinsicht immer eine individuelle, selbst wenn Millionen Menschen sie teilen. Philosophen pflegen darauf hinzuweisen, dass ein »Ort« ebenso sehr in uns ist wie außerhalb von uns. Man kann einen Ort auf einer Karte einzeichnen, mithilfe eines Navigationssystems seinen Breiten- und Längengrad bestimmen und sich mit dem absolut realen Staub, den es dort gibt, die Schuhe schmutzig machen. Aber das ist immer nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte kommt von uns, von dem, was wir über einen Ort erzählen, und von den Erfahrungen, die wir dort gemacht haben. »So viel kulturellen oder sprachlichen Ballast wir auch aus dem Weg räumen«, schreibt der Philosoph Edward Casey, »wir werden darunter nie einen reinen Ort freilegen«, sondern immer nur »kontinuierliche und ständig wechselnde Sichtweisen auf bestimmte Orte.« 13 Wenn wir reisen, legen wir einen Ort in unserem Kopf auf eine ganz bestimmte Bedeutung fest. Nirgends ist eine heilige Stätte heiliger als in den Augen des Pilgers. Und indem er sie aufsucht, vergewissert er sich nicht nur der Bedeutung dieses Ortes, sondern auch seiner eigenen. Die physische Standortbestimmung hilft uns bei der Bestimmung unseres psychischen Standorts – unserer Identität. Aber galt das auch für mich, den Pilger auf den Spuren des Internets? Ich brannte darauf, die wichtigsten Orte des Internets zu sehen, aber waren das wirkliche Orte? Und wenn ja: Hatte das Internet so viel Ähnlichkeit mit einer Religion – einer bestimmten Art und Weise, die Welt zu interpretieren –, dass es sinnvoll war, sie aufzusuchen?
    Am nächsten Morgen, in Los Angeles, wurde das Ganze noch komplizierter. Als ich im Morgengrauen aufwachte – meine innere Uhr war noch auf New York gestellt –, fand ich mich in einem riesigen Hotel am Flughafen wieder, verspiegelte Glasfassade und Blick auf die Startbahn inklusive. Ich stellte mich ans Fenster und sah einer Reihe Flugzeuge dabei zu, wie sie auf ihren Schatten landeten. In meinem Zimmer standen überall kleine gefaltete Pappschilder mit den eingetragenen Markenzeichen, die dafür sorgten, dass das Zimmer den internationalen Standards der Hotelkette entsprach: vom »Suite Dreams®«-Bett über das Duschgel aus der »Serenity Bath Collection®« bis hin zum »unverkennbaren Service«. Nichts war einzigartig oder ortstypisch, alles war auf Veranlassung eines Weltkonzerns hierher gekarrt worden. Der Romanautor Walter Kirn nennt diese Nichtorte wie Flughäfen und ihr Umfeld »Airworld«. Ich gab mir Mühe, ein postmodernes Vergnügen daran zu empfinden und den Ryan Bingham in mir zu wecken, den Protagonisten von Walter Kirns Roman Mr. Bingham sammelt Meilen (der Film mit George Clooney in der Hauptrolle trägt den Titel Up in the Air ), der sich nur hier in dieser gleichförmigen, aber zugegebenermaßen komfortablen Welt zu Hause fühlt – auch wenn »Städte in meinem Gedächtnis nicht mehr so gut haften bleiben wie früher«. 14 Aber in mir war es leer. Kaum hatte ich mich auf den Weg zum Internet gemacht, begannen auch schon die Schwierigkeiten, das Einzigartige und Ortstypische ausfindig zu machen. Es war frustrierend zu sehen, wie selbst scheinbar reale Orte miteinander verschwammen. Ich war nach Los Angeles geflogen, um zu versuchen, das Netz zurück in die Welt zu holen – doch jetzt schien es, als habe die Welt sich der Logik des Netzwerks ergeben.
    Meine Sorgen waren unbegründet. An jenem Nachmittag an der University of California in Los Angeles ( UCLA ) stand mir die physische Geburt des Internets, die sich an diesem ganz konkreten Ort abspielte, deutlich vor Augen. Am ruhigen Samstagnachmittag des

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