Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
überdimensionierte Drucke. Die aktuell verwendete Druckmaschine – von der Größe eines Omnibusses – steht in einer riesigen Fabrikhalle. Mit der Montage war ein Team deutscher Ingenieure vier Monate lang beschäftigt, in denen sie jedes zweite Wochenende zu ihren Familien nach Hause flogen. Die Presse war eine echte Seltenheit. In den ganzen USA fand man keine zwanzig Stück von dieser Sorte. Und an diesem Morgen war sie frustrierend leise.
Die schwarze Tinte streikte. Der Drucker hatte jemanden vom technischen Support angerufen, der sich von Deutschland aus in die Maschine einloggen konnte, um der Störungsursache auf den Grund zu gehen. Ich saß hinter einer Glaswand im Warteraum und schaute dem Drucker dabei zu, wie er, einen langen Schraubenzieher in der Hand und ein schnurloses Telefon unters Kinn geklemmt, ins Innere der Presse spähte. Neben mir saß Markus Krisetya, der eigens aus Washington angereist war, um sicherzustellen, dass der für heute geplante Druck seinen Vorstellungen entsprach. Er wollte sich vergewissern, dass die Presse so eingestellt war, dass sie von jeder Farbe genau die richtige Menge Tinte auf dem Bogen im Posterformat verteilte. So etwas konnte man per E-Mail nicht erledigen. Kein digitaler Scan würde die Nuancen detailliert genug wiedergeben, und ein Kurierdienst wäre für die Feineinstellung, bei der nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip Kleinigkeiten hin und her geändert werden, viel zu langsam. Es gebe eben Dinge, so Krisetya schulterzuckend, die man nach wie vor persönlich erledigen müsse. Umso überraschender war das angesichts dessen, was da gedruckt werden sollte: eine Karte des Internets.
Krisetya war der Kartograph. Jahr für Jahr erhoben seine Kollegen vom Marktforschungsunternehmen TeleGeography aus Washington DC bei Telekommunikationsfirmen auf der ganzen Welt die neuesten Daten zur Kapazität ihrer Datenübertragungsleitungen, zu ihren meistgenutzten Leitungswegen und zu ihren Expansionsplänen. Dabei greifen die Kartographen von TeleGeography weder auf ausgeklügelte Algorithmen noch auf eine firmeneigene Datenauswertungssoftware zurück. Sie bedienen sich der altmodischen Methode, mit Kontaktleuten in der Branche zu telefonieren, Vertrauen aufzubauen und dann genau im richtigen Augenblick ein paar Mutmaßungen anzustellen. Das Ergebnis dieser Arbeit fließt hauptsächlich in den großen, jährlich aktualisierten Bericht Global Internet Geography ( GIG ), den Telekommunikationsfirmen für schlappe 5495 Dollar käuflich erwerben können. Aus einem Teil der wichtigsten Daten jedoch erstellt Krisetya eine Reihe von Karten. Eine bildet das »Backbone« des Internets ab, die wichtigsten Verbindungen zwischen großen Städten. Eine andere visualisiert den durch das Netz fließenden Datenverkehr, indem sie Trillionen von Datenpaketen auf ein paar dickere und dünnere Linien eindampft. Eine dritte schließlich – die Karte, deren Druck an jenem Morgen in Milwaukee anstand – zeigt die zur weltweiten Datenübertragung eingesetzten Tiefseekabel, die physischen Verbindungen zweier Kontinente. All diese Karten bilden Zwischenräume ab, Verbindungsabschnitte, die in der Regel außerhalb unseres Gesichtsfeldes liegen. Die Länder und Kontinente sind auf diesen Karten Nebensache; im Mittelpunkt stehen die unendlichen Weiten dazwischen. Und doch sind diese Karten auch Abbildungen von greifbaren Dingen, von ganz konkreten Kabeln voller Glasfasern, die ihrerseits voller Licht sind – von jener Sorte erstaunlicher menschlicher Erfindungen, auf die man in Milwaukee stolz war.
Krisetya huldigte diesen Erfindungen mit den Mitteln seiner eigenen Handwerkskunst. Sobald der Entwurf einer Karte fertig war, schickte er ihn auf elektronischem Weg hierher nach Milwaukee und reiste ihm anschließend hinterher. Er übernachtete in irgendeinem zentral gelegenen Hotel, das gerade ein Sonderangebot hatte, und wenn er in aller Frühe hier heraus fuhr, hatte er nichts dabei außer einer Sporttasche und seinen Augen. Mit großen Maschinen kannte er sich aus. Nach dem Studium in den USA war er in sein Heimatland Indonesien zurückgegangen und hatte als Datenbankingenieur, hauptsächlich im Bergbau, gearbeitet. Jung, schlank, umgänglich, anpassungsfähig und abenteuerlustig, wie er war, tauchte er an den abgelegensten Orten irgendwo im Dschungel auf und machte sich ohne Umschweife daran, an den Großrechnern herumzubasteln. Als Junge hatte er anhand eines schwarzkopierten Regelwerks, das
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