Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
würde nach Kitzbühel gebracht werden und Sonja in die Arme schließen. Gemeinsam konnten sie nach München zurückkehren und diese höllische Gondelfahrt samt ihrer traumatischen Erinnerungen hinter sich lassen. Trotzdem war eines sicher: Er würde sein Lebtag in keine Seilbahn mehr steigen.
Raphaels Blick fiel auf Samantha.
Sie hatte aufgehört zu weinen, aber ihr Gesicht war leer und ausdruckslos. Die Vorfälle in der Gondel würden sie prägen, vielleicht so nachhaltig, dass eine gestörte Persönlichkeit daraus entwuchs. Das Mädchen brauchte dringend professionelle Hilfe. Es brauchte seinen Vater, seine Geschwister, Angehörige und geschultes Fachpersonal. Hier in der Kabine gab es nichts davon.
Raphaels schlechtes Gewissen schlug zu wie ein Krokodil in einem Schlammloch.
Das kannst du nicht tun!
Er durfte die Kleine nicht zurücklassen; nicht, wenn neben ihr ein Mörder saß. Raphael kaute auf seiner Unterlippe. Sonja würde das verstehen, bestimmt. Wenn sie nicht so krank gewesen wäre, hätte sie das Gleiche getan.
„Samantha“, sagte er leise. „Willst du schon jetzt gerettet werden?“
Sie wandte ihm ihr tränenverschmiertes Gesicht zu und schniefte herzzerreißend. „Ich hab’ die Vier“, nuschelte sie.
„Nein, du hast die Zwei“, entgegnete Raphael und hielt Samantha seinen Zettel hin. Sie musterte das Blatt Papier mit großen Kulleraugen und wischte sich mit dem Handrücken eine blonde Locke aus dem Gesicht.
„Das ist sehr edel von dir“, bemerkte Emma. „Du hast ein großes Herz.“
„Danke“, entgegnete Raphael beschämt. „Aber das würde doch jeder tun.“
„Nein“, betonte Emma. „Die meisten Menschen würden in ihrem Egoismus ertrinken.“
Die schwarze Silhouette des Helikopters schob sich in ihr Blickfeld. Sekunden später löste sich Benjamins Gestalt von der Unterseite des Fluggeräts und glitt zu ihnen herab.
„Na dann“, meinte Raphael und strich Samantha über den hellen Haarschopf. „Ab nach Hause.“
Schiregion Kitzbühel, Piste 55, nahe Kabine 14
Sonntag, 7. Januar, 09:37 Uhr
Ernst war schon wieder am Fluchen. Umherwirbelnde Schneekristalle hatten sich auf der Linse der Kamera festgesetzt, waren geschmolzen und verschleierten die Sicht. Stefanie fand das nicht weiter tragisch. Dadurch wirkten die Bilder realer und gewannen an Dramatik. Ernst war nicht dieser Meinung.
„Scheiß Schnee“, murrte er und begann die Linse mit einem Tuch zu säubern.
Stefanie beachtete ihn nicht weiter. Das Filmen war seine Aufgabe. Ihr oblag, gut auszusehen und einen halbwegs vernünftigen Text ins Mikrofon zu säuseln. Wenn der Helikopter zur nächsten Bergung anrückte, wollten sie einen Beitrag aufnehmen, mit der Kabine im Hintergrund. Vielleicht konnte sie Andreas dazu bringen, dass er seine Einschätzung zu den Schneemassen und der drohenden Lawinengefahr beisteuerte. Stefanie rieb ihre Hände. Obschon sie Fäustlinge, Mütze und einen dicken Overall trug, hatten sich die klammen Finger von Väterchen Frost durch ihre Kleidung gewühlt.
Andreas lächelte. „Darf ich?“, fragte er.
Er nahm ihre Hände in die seinen und rieb die Handschuhe aneinander.
„Pass bloß auf, dass zwischen uns keine Funken sprühen“, murmelte sie.
Er hielt verblüfft inne. Dann jedoch erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. „Das will ich doch hoffen.“
*
Die zweite Person, die aus der Kabine geborgen wurde, war schmächtiger. Franz vermutete, dass es sich um eines der Kinder handelte.
Werde ich jemals Kinder haben?
Franz verzog das Gesicht; zumindest bemühte er sich, seine starre Mimik zu einer Reaktion zu bewegen. Ein sehr unpassender Moment für solche Spinnereien. Noch nie war in ihm der Wunsch nach eigenem Nachwuchs erwacht. Er fand, dass er genügend Sorgen und Probleme hatte, auch ohne sie mit einem kreischenden Balg zu multiplizieren.
Franz’ Gedanken stockten. Irgendetwas war anders.
Er warf einen Blick in den Himmel empor; der Helikopter entfernte sich Richtung Kitzbühel, die Gondel hing weiterhin fast regungslos inmitten vorbeifegender Wolkenfetzen. Aber die Veränderung war nicht in der Luft zu finden. Sondern hangaufwärts.
Der Boden erzitterte.
Schiregion Kitzbühel, Saukaser-Hochalm
Sonntag, 7. Januar, 09:38 Uhr
„Hörst du das?“ Hans verhielt mitten im Schritt.
Magdalena zog die Augenbrauen hoch. „Nein. Willst du dich schon wieder vor der Arbeit drücken?“
Hans knurrte böse. „Sei still, Weib, und stell die Gläser hin.“
Magdalena
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