Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
überlegte, ob sie es auf eine offene Konfrontation ankommen lassen sollte. Sie entschied sich dagegen. Nicht vor Mittag. Nicht an einem Sonntag. Folgsam stellte sie die Bierkrüge auf den Tresen und lauschte.
Tatsächlich. Ein dumpfes Dröhnen, wie von einem kilometerhoch fliegenden Passagierjet. Oder dem fernen Brummen einer Pistenraupe.
Die Krüge am Tisch fingen an zu vibrieren.
„Scheiße!“, brüllte Hans und riss den Vorhang des Fensters beiseite, welches den Blick Richtung Nordwesten freigab.
Vom Berggrat des Pengelstein raste eine weiße Wand auf sie zu.
Schiregion Kitzbühel, Piste 55, nahe Kabine 14
Sonntag, 7. Januar, 09:38 Uhr
Andreas blieb seine erotische Anspielung im Halse stecken. Sein Lächeln gefror, seine Muskeln verkrampften.
Das ist unmöglich
.
Er erkannte das Bild auf Anhieb. Abermals war die Szenerie aus seinem Traum gerissen – seinem heutigen Traum. Die weiße Wand, die sich vor ihnen aufbäumte, mit einem gutturalen Brausen näher rückte und alles verschlang, was sich ihr in den Weg stellte. Eine Lawine. Wie hatte er nur so blind sein können.
Andreas wirbelte herum. Stefanie starrte dem weißen Tod entgegen, den Mund vor Überraschung weit aufgerissen. Franz zeigte überhaupt keine Reaktion. Ganz anders der Kameramann. Ernst kreischte auf, presste die Kamera an seine Brust und hetzte auf den Motorschlitten zu.
Genau das sollten sie auch tun. Unverzüglich.
„Weg hier!“, brüllte Andreas und packte Stefanie am Arm. Sie rührte sich nicht, blickte zu Franz hinüber, der etwa zwanzig Schritte entfernt stand. Viel zu weit weg, um ihm irgendwie helfen zu können.
„Warum unternimmt er nichts?“, flüsterte sie.
„Franz!“, brüllte Andreas. Keine Antwort.
Die Lawine donnerte heran. Breiter und höher wurde das Schneebrett, verwandelte sich in eine alles erstickende Staublawine.
Andreas zerrte Stefanie einfach mit sich, direkt auf den nächsten Motorschlitten zu. Hastig löste er die Schneeschuhe von seinen Füßen und sprang auf den Fahrersitz. Ernst war ihnen voraus. Sein Schi-Doo tat einen Satz, und er fegte den Abhang hinab.
„Franz, nein!“, schrie Stefanie. Ihre Stimme brach.
Andreas fluchte ungehemmt, als das Schneemobil nicht sofort ansprang. Erst beim zweiten Anlauf erwachte das Brummen des Motors.
„Steig auf!“, brüllte Andreas, aber Stefanie kletterte bereits hinter ihn. Er meinte, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Sie legte die Arme um ihn, drückte ihr Gesicht gegen seinen Rücken.
Andreas warf einen letzten Blick zurück. Die Ausläufer der Lawine erreichten die Saukaser-Hochalm. Das Dach eines Gebäudes wurde erfasst, angehoben und wie Spielzeug durch die Luft geschleudert.
Franz zeigte noch immer keine Reaktion. Er stand da, als wäre er aus Erz gegossen.
Andreas beugte sich über die Lenkstange und sie brausten talwärts.
*
Franz vernahm Stefanies Schreie, Andreas’ Rufe. Er hörte, wie sie auf einen Motorschlitten sprangen und davonjagten.
Franz lächelte.
Wie verschlagen das Schicksal doch war. Vor wenigen Sekunden hatte er noch geglaubt, das Ruder herumreißen zu können. Er hatte über die Bergung der Passagiere sinniert; seine Chancen ausgerechnet, den Job behalten zu können. Sogar über Kinder hatte er nachgedacht.
Und jetzt begegnete ihm der Tod. Packte zu, wenn er es am wenigsten erwartete. Ausgerechnet in Form jenes Elements, das sich in den letzten zehn Jahren als treuer Begleiter erwiesen hatte.
Franz war völlig ruhig. Er konnte sich nicht retten, selbst wenn er dem schrillen Kreischen seines Überlebenswillens nachgab. Seine Krankheit erlaubte das nicht. Seine Glieder waren viel zu steif und unbeweglich, als dass er sich rechtzeitig in Sicherheit hätte bringen können. Aber was hatte er erwartet? Mit einem Mal traf ihn die Erkenntnis, dass die vergangenen vierundzwanzig Stunden nur in diesem Ereignis gipfeln konnten.
Schade. Er hätte gern noch einmal die Sonne gesehen.
Die Lawine brauste heran. Höher und höher wirbelten die Schneemassen, formten eine immense Walze aus weißem Staub. Franz stemmte die Füße in den Schnee. Er würde aufrecht sterben. So wie er sein ganzes Leben aufrecht gekämpft hatte. Gegen seine Neider, falschen Freunde und gegen sich selbst.
Franz öffnete den Mund, brüllte dem Tod seine Entschlossenheit entgegen.
Wie ein Löwe.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Sonntag, 7. Januar, 09:38 Uhr
„Hört ihr das?“, fragte Sandra. Ihre Stimme klang ängstlich.
Raphael, der noch
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