Kälteeinbruch (German Edition)
Miene auf. Mit seiner faltigen Hand tätschelte er Ivans riesige Faust. «Ich muss dich was fragen. Sei ehrlich, okay?»
Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren nahm Ivan eine Art Unsicherheit in den Augen des Mannes wahr, der längst im Ruhestand sein sollte.
«Was denn?»
«Gibt es irgendwas, was dir nicht passt? Hast du das Gefühl, ich bin nicht fair zu dir?»
Ivan kniff die Augen zusammen. Versuchte, sein Gehirn zu mobilisieren. War es so offensichtlich, dass er die Nase allmählich gestrichen voll hatte?
«Warum fragst du?»
«Antworte einfach», erwiderte Doskino scharf. «Mir ist wichtig, dass du ehrlich bist.»
Ivan zuckte mit den Schultern. Sah hoch. «Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht mit
dir
unzufrieden. Eher mit der Gesamtsituation.»
«Trotzdem willst du das Risiko auf dich nehmen und mit fünfzehn Kilo Crystal nach Paris fahren?»
«Das hatte ich doch versprochen, oder nicht? So können wir zumindest sicher sein, dass alles nach Plan verläuft, und das ist jetzt wichtig.»
Doskino stülpte die Lippen vor.
«Du weißt, dass ich sie so oder so hätte laufenlassen?»
«Viktorija Mielkos?»
«Ja.»
Ivan schüttelte den Kopf. «Das glaub ich nicht.»
«Überleg doch mal. Bernandas ist tot.»
«Das wusstest du noch nicht, als du sie freigelassen hast.»
Doskino lehnte sich zurück und zog resigniert die Schultern hoch. «Ivan!» Er seufzte. Beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. «Ich werde nicht jünger, das weißt du auch, oder? Wenn der Tag X kommt, will ich, dass du mein Nachfolger wirst. Du und ich, wir beide halten das Ganze am Laufen. Kannst du mir nicht einfach glauben, dass ich sie hätte ziehen lassen?» Er redete jetzt schnell, als läge ihm wirklich daran, Ivan zu überzeugen. «Bernandas sollte leiden. Klar hätte ich sie auch umbringen können, aber was meinst du, ist schlimmer? Sterben oder Weiterleben mit dem, was sie durchgemacht hat?»
Die Antwort lag auf der Hand.
«Jetzt kannst du dir mal überlegen, was für Bernandas schlimmer gewesen wäre: Sie zu verlieren oder für immer auf die Narben in ihren Augen blicken zu müssen, die sie seinem Verhalten zu verdanken hat. Du weißt, sie wird nie mehr ein richtiger Mensch sein. Sie wird ihr Studium nicht schaffen. Und ihr Bruder ist jetzt auch noch tot.»
«Okay», erwiderte Ivan, der eingesehen hatte, dass Doskino die Wahrheit sagte. Er hätte sie auf jeden Fall laufenlassen.
«Ganz abgesehen davon», Doskino wedelte mit erhobenem Zeigefinger vor Ivans Nase herum, «frage ich mich, was mit dir auf einmal los ist. Woher diese plötzliche …», auf der Suche nach dem richtigen Wort ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, «Milde?»
«Sie hatte es einfach nicht verdient. Aber mir ist klar, dass es sein musste.»
«Gut. Dann … bist du also bereit für Paris?»
«Ja.»
«Nach Neujahr werden wir uns ein wenig umsehen. Wir brauchen neue Leute. Auf die man sich verlassen kann. Was würde ich nicht für ein paar neue Ivans geben.» Doskino grinste von einem Ohr zum anderen.
Das Glöckchen über dem Eingang bimmelte. Doskino hob den Blick. Knappe drei Sekunden später riss der alte Mann vor Schreck die Augen weit auf. Ivan war sich nicht sicher, was er zuerst hörte: den Schuss oder wie Doskinos Hinterkopf an die Wand klatschte.
Ivan rührte sich nicht, starrte auf die rote Masse, die an der Wand herunterlief. Er richtete sich auf. Machte sich bereit. Ertappte sich dabei, wie er innerlich die Sekunden zählte. Wie lange würde er selbst durchhalten? Sicher keine zwölf Sekunden, die Typen, die zur Tür hereingekommen waren, bräuchten nur einen Schuss. Der Beweis dafür rann noch immer an der Wand herunter.
Er wollte sich nicht umdrehen. Genau so sollte es enden, und in gewisser Weise fühlte er sich jetzt bereit. Er wusste, dass es so weit war.
Und dass er von hinten käme.
Der Tod.
Nachwort
Als mir klar wurde, um welches Thema dieses Buch kreisen würde, wusste ich, dass die Recherchen beklemmend und schwierig ausfallen könnten. Ausführliche Gespräche mit zwei Osloer Polizisten, die sich auf die Aufklärung von Sexualstraftaten spezialisiert haben, brachten vieles zutage, das derart drastisch war, dass ich beschloss, darüber nicht zu schreiben. Ich fürchtete, andernfalls würde meine Geschichte nicht glaubwürdig erscheinen. Bei einem Thema wie diesem vermag sich die Phantasie nicht annähernd auszumalen, wie grotesk die Realität letztlich ist.
Ein großes Dankeschön
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