Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Ermittlungen steht.«
»Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen«, sagte Kristín so leise, dass Erlendur sie kaum verstehen konnte. »Nur mit Leonóra, als sie im Sterben lag.«
Erlendur spürte, dass die Frau sich sehr schwertat. Sie überlegte lange, und er versuchte, sich in sie hineinzuversetzen. Sie war völlig unvorbereitet auf diesen Besuch gewesen, und erst recht auf die Frage, die Erlendur an sie herangetragen hatte. Sie schien jedoch keinen Grund zu sehen, ihm zu misstrauen.
»Ich glaube, da im Schrank ist noch ein Rest Aalborg«, sagte sie schließlich und stand auf. »Darf ich dir einen anbieten?«
Erlendur nahm das Angebot dankend an. Sie holte zwei kleine Gläser, füllte sie bis zum Rand mit Aquavit und hatte das erste Glas in einem Zug geleert, noch bevor Erlendur seines an die Lippen führen konnte. Sie füllte ihres gleich wieder und leerte es halb.
»Sie sind jetzt ja beide tot«, sagte sie.
»Ja.«
»Insofern ändert es sowieso nichts mehr.«
»Wohl kaum.«
»Ich weiß nichts über diese Schraube da an dem Boot«, sagte Kristín. Sie verstummte für einen Augenblick und fragte dann: »Warum hat María das getan?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Erlendur.
»Das arme Mädchen«, stöhnte Kristín. »Ich kann mich so gut an sie erinnern, an die Zeit, bevor Magnús starb. Sie war der Sonnenschein ihrer Eltern. Sie hatten keine anderen Kinder, und sie war von nichts als grenzenloser Liebe umgeben. Als mein Bruder dort auf dem See zu Tode kam, hatte es den Anschein, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Eigentlich beiden, María und Leonóra. Ich weiß, dass Leonóra Magnús über alles geliebt hat. Und das Mädchen hat so sehr an ihm gehangen. Deswegen begreife ich das nicht. Ich begreife nicht, was er sich dabei gedacht hat.«
»Er? Meinst du Magnús?«
»Nach dem Unglück ist die Mutter nicht mehr von der Seite ihrer Tochter gewichen. Leonóra schützte ihr Kind so, dass es meiner Meinung nach schon fast zu viel des Guten war. Ich glaube, sie hat das Mädchen viel zu sehr behütet. Andere wurden gar nicht in ihre Nähe gelassen – und auf keinen Fall wir, die Verwandten von Magnús. Unsere Kontakte zu den beiden erloschen mit der Zeit völlig. Nach dem Unfall auf dem See hat Leonóra jegliche Verbindung zu uns, Marías Familie väterlicherseits, abgebrochen. Ich habe das immer sehr seltsam gefunden. Aber erst kurz vor Leonóras Tod habe ich die ganze Wahrheit erfahren. Sie bestellte mich zu sich, als es auf das Ende zuging.
Sie konnte schon nicht mehr aufstehen und wusste, dass ihr nur noch ein paar Tage blieben. Da hatten wir … sehr lange keinen Kontakt gehabt. Sie war in ihrem Zimmer und bat mich, die Tür zu schließen und mich zu ihr zu setzen. Sie sagte, sie müsse mir etwas sagen, bevor sie hinüberging. Ich fiel aus allen Wolken. Sie begann, über Magnús zu reden.«
»Hat sie dir gesagt, was da am See passiert ist?«
»Nein, aber sie hat mir von ihrem Zorn auf Magnús erzählt.«
Kristín füllte ihr Glas ein weiteres Mal mit Aquavit. Erlendur lehnte dankend ab. Sie kippte den Schnaps hinunter und setzte das Glas ruhig ab.
»Jetzt sind sie beide tot«, sagte sie.
»Ja«, sagte Erlendur.
»Sie waren unzertrennlich.«
»Was hat Leonóra dir gesagt?«
»Sie hat mir gesagt, dass Magnús vorhatte, sie zu verlassen. Er hatte ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Das wusste ich, denn Magnús hatte es mir seinerzeit gestanden. Deswegen hatte Leonóra mich gebeten zu kommen. Es war, als hätte ich an einer Verschwörung gegen sie teilgenommen, sie sagte das zwar nicht direkt, aber ich spürte es.«
Erlendur zögerte. »Er … Magnús ist also fremdgegangen?«
Kristín nickte. »Es begann ein paar Monate vor seinem Tod. Ich glaube, außer mir wusste niemand davon, und ich habe es nicht weitererzählt. Das ging niemanden etwas an. Magnús sagte Leonóra, dass er sich scheiden lassen wolle. Es war ein grauenvoller Schock für sie, sagte sie mir. Es hat sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie liebte meinen Bruder und hat ihm voll …«
»Er hat ihr das also dort in Þingvellir gesagt?«
»Ja. Nach Magnús’ Tod habe ich seinen Seitensprung nie erwähnt, weder Leonóra noch irgendeinem anderen Menschen gegenüber. Magnús war tot, und ich fand, dass das niemanden etwas anging.«
Kristín holte tief Atem. »Leonóra warf mir vor, dass ich sie nicht sofort über den Seitensprung meines Bruder informiert hatte, als ich davon
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