Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
war. Er hatte sein Abendessen in Styropor-Verpackung aus dem Supermarkt mitgebracht, irgendein scheußlich zusammengewürfeltes Eintopfgericht.
Erlendur setzte sich zu ihm.
»Zwischen dir und deinem Bruder war kein großer Altersunterschied«, sagte Erlendur.
»Zwei Jahre«, erwiderte Elmar. »Ich bin zwei Jahre älter. Habt ihr etwas Neues herausgefunden?«
»Nein«, sagte Erlendur.
»Eigentlich hatten wir keine sehr enge Beziehung zueinander. Man könnte sagen, dass ich mir nicht viele Gedanken um meinen kleinen Bruder gemacht habe, für mich war er der Kleine, ich wollte lieber mit meinen Freunden und Gleichaltrigen zusammen sein.«
»Bist du zu irgendeinem Schluss gekommen, was damals geschehen sein könnte?«
»Höchstens, dass er sich umgebracht hat«, sagte Elmar. »Er war ja nicht in schlechter Gesellschaft und hat keine Dinger gedreht, verstehst du, und deswegen konnte es niemanden geben, der ihm an den Kragen wollte. Davið war ein lieber Junge. Schlimm, dass es so gelaufen ist.«
»Bei welcher Gelegenheit hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Zuletzt? Ich habe ihn angepumpt, er sollte mir Geld fürs Kino leihen. Damals hatte man nie Geld, genauso wenig wie heute. Davið hat manchmal gejobbt und was zurückgelegt. Das habe ich euch aber alles schon gesagt.«
»Und …?«
»Nichts und, er hat es mir geliehen. Ich hatte keine Ahnung, dass er an dem Abend verschwinden würde, es gab also keineswegs die berühmten Abschiedsworte, nur ein ganz normales Danke und Tschüss.«
»Ihr hattet also nie eine enge Bindung?«
»Nein, das kann man nicht sagen.«
»Ihr habt nicht über persönliche Dinge gesprochen?«
»Nein. Ich meine, er war mein Bruder und das alles, aber wir waren ziemlich verschieden und … Du weißt …«
Elmar schlang das Essen in sich hinein. Zwischen zwei gehäuften Löffeln erklärte er, dass er sich nie mehr als eine halbe Stunde Zeit fürs Abendessen nähme.
»Weißt du, ob dein Bruder vor seinem Verschwinden ein Mädchen kennengelernt hat?«
»Nein«, sagte Elmar, »ich weiß von keinem Mädchen.«
»Sein Freund sagt, dass er vielleicht eine Freundin hatte, aber das ist wohl ziemlich vage.«
»Davið hat sich nie für Mädchen interessiert«, sagte Elmar und zog eine Schachtel Camel aus der Tasche. Er bot Erlendur eine Zigarette an, doch der lehnte ab. »Oder sagen wir lieber, ich habe nichts darüber gewusst«, fügte er hinzu und sah zu dem Rommétisch hinüber.
»Ja, so war es wohl«, sagte Erlendur. »Deine Eltern haben sich lange Zeit an die Hoffnung geklammert, dass er zurückkehren würde.«
»Ja, sie … Für sie gab es nur Davið. An etwas anderes haben sie nie einen Gedanken verschwendet.«
Erlendur glaubte, Bitterkeit in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
»Sonst noch etwas?«, fragte Elmar. »Ich würde ganz gern eine Runde mit denen spielen.«
»Nein, entschuldige«, sagte Erlendur und stand auf. »Ich wollte dir nicht das Abendessen verderben.«
Zwanzig
Eva Lind besuchte ihn am Abend. Sie hatte sich mit ihrer Mutter getroffen und von ihrer Begegnung erfahren. Erlendur erklärte, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, sie beide zusammenzubringen. Eva schüttelte den Kopf.
»Ihr werdet euch also nicht noch einmal treffen?«, fragte sie.
»Du hast dein Möglichstes versucht«, sagte Erlendur. »Wir haben einfach keinen Draht zueinander. Vielleicht sind wir einfach zu stur und können nicht über unseren Schatten springen.«
»Stur?«
»Es war ein sehr schwieriges Treffen.«
»Sie sagt, sie ist zum Schluss abgehauen.«
»Ja.«
»Aber getroffen habt ihr euch.«
Erlendur saß mit einem Buch in der Hand in seinem Sessel. Eva Lind hatte sich auf dem Sofa vor ihm niedergelassen. So hatten sie sich oft gegenübergesessen. Manchmal hatten sie sich so heftig gefetzt, dass Eva Lind unter wüsten Beschimpfungen hinausgestürmt war. Manchmal hatten sie miteinander reden und sich ihre Gefühle zeigen können. Wenn er Eva Lind etwas über tödliche Unfälle in den Bergen oder aus der isländischen Geschichte erzählte, schlief sie nicht selten auf dem Sofa ein. Ihr Zustand bei solchen Besuchen war unterschiedlich gewesen, manchmal war sie so high, dass Erlendur ihr gar nicht folgen konnte. Oder sie war so down, dass er fürchtete, sie könne irgendetwas Verrücktes tun.
Er zögerte, sie danach zu fragen, ob Halldóra ihr detailliert von ihrem Gespräch berichtet hatte, doch Eva Lind enthob ihn dieser Mühe.
»Mama hat gesagt, das du sie nie richtig
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