Kaeltezone
Trotzdem kam es ihm so vor, als sei das Auto in Bewegung, und er musste sehr viel vorsichtiger als normalerweise steuern, weil er fast völlig geblendet war. Als er in den Rückspiegel blickte, konnte er die Gesichter seiner Kinder nicht erkennen. Er glaubte zu sehen, dass es Eva und Sindri waren, aber die Gesichter waren irgendwie undeutlich und verschwommen. Er kam aber zu dem Schluss, dass es wohl kaum andere Kinder sein konnten. Eva schien ungefähr vier Jahre alt zu sein. Er sah, dass sie sich an der Hand hielten.
Das Radio lief und eine betörende weibliche Stimme sang: Ich weiß, du kommst heut’ Nacht zu mir.
Urplötzlich sah er einen riesigen Lastwagen auf sich zukommen. Er versuchte, zu hupen und zu bremsen, aber nichts geschah. Als er in den Rückspiegel schaute, waren seine Kinder verschwunden, und er verspürte unsägliche Erleichterung. Er blickte nach vorn auf die Straße. Er näherte sich dem Lastwagen mit Furcht erregender Geschwindigkeit, und ein Zusammenstoß schien unvermeidlich.
Als alles aussichtslos zu sein schien, spürte er eine seltsame Nähe neben sich. Er schaute zum Beifahrersitz, dort saß jetzt Eva Lind und lächelte ihn an. Sie war aber kein kleines Mädchen mehr, sondern sie war erwachsen und sah entsetzlich aus in ihrem abgerissenen blauen Anorak, mit verfilzten dreckigen Haaren, Ringen unter den Augen, hohlen Wangen und schwarzen Lippen. Als ihr Lächeln breiter wurde, sah er Zahnlücken.
Er wollte ihr etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Am liebsten hätte er ihr zugebrüllt, sie solle aus dem Auto springen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es diese Ruhe, die von ihr ausging. Sie war vollkommen gelassen. Sie wandte ihren Blick von ihm ab, sah den Lastwagen und fing an zu lachen.
Im letzten Augenblick vor dem Aufprall wachte er auf und schrie den Namen seiner Tochter. Er setzte sich auf und brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Als er den Kopf wieder auf das Kissen legte, drang ein seltsam trauriges Lied an ihn heran, das ihn in einen traumlosen Schlaf geleitete.
Ich weiß, du kommst heut’ Nacht zu mir …
Fünfundzwanzig
Níels konnte sich kaum an Haraldurs Bruder Jóhann erinnern. Er begriff nicht, wieso Erlendur sich darüber aufregte, dass in den Berichten kein Wort über den Bruder stand. Níels telefonierte gerade, als Erlendur zu ihm ins Büro kam. Er sprach mit seiner Tochter, die Medizin studiert hatte und in den uSa eine Spezialausbildung als Kinderärztin machte, wie Níels ihm selbstgefällig verkündete, nachdem er aufgelegt hatte. So als hätte er noch nie jemandem davon erzählt, obwohl er im Grunde genommen kaum über etwas anderes sprach. Erlendur war es so egal wie nur irgendwas. Níels ging bald in Pension und befasste sich jetzt fast nur noch mit unbedeutenden Delikten, Autodiebstählen und kleineren Einbrüchen. Seine Standardaussage den Betroffenen gegenüber war, dass es am besten sei, das Ganze zu vergessen, Anzeige zu erstatten sei die reinste Zeitverschwendung. Wenn man die Täter überführen könnte, würde selbstverständlich ein Protokoll angefertigt, aber das brächte rein gar nichts. Die Straftäter würden gleich nach der Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt, und es käme gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung. Und falls es sich zufälligerweise so träfe, dass sich genügend Straftaten angesammelt hätten und die Betreffenden doch vor Gericht gestellt würden, fiele das Urteil absolut lächerlich aus und sei im Grunde genommen eine Beleidigung für diejenigen, die ihnen zum Opfer gefallen waren.
»Kannst du dich an diesen Jóhann erinnern?«, fragte Erlendur. »Hast du ihn getroffen? Bist du damals zum Hof der Brüder in Mosfellssveit gefahren?«
»Solltest du dich nicht lieber mit diesem russischen Apparat befassen?«, fragte Níels, zog eine Nagelschere aus der Westentasche und begann, sich die Fingernägel zu schneiden. Er blickte auf die Uhr. Eine lange und gemütliche Mittagspause stand bevor.
»Doch«, sagte Erlendur, »da gibt es genug zu tun.«
Níels unterbrach die Schnippelei. Da war so ein Unterton, der ihm nicht gefiel.
»Dieser Jóhann beziehungsweise Jói, wie sein Bruder ihn nannte, war irgendwie komisch«, sagte Níels. »Er war ein einfältiger Depp, früher hätte man ihn einen armen Tropf genannt. Bevor die Hüter der Wörter die Sprache mit ihren offiziellen Sprachregelungen glatt gebügelt haben.«
»Was für ein armer Tropf?«, fragte Erlendur. Er war der gleichen
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