Kaeltezone
sagte, und legte sich für jede Situation die passenden Vaterbilder zurecht, und die waren ganz anders als das Bild, das ihre Mutter ihnen vermittelte. Zwei Mal, im Alter von neun und von elf Jahren, war Eva von zu Hause weggelaufen, um ihren Vater zu suchen. Ihren Freundinnen schwindelte sie vor, dass ihr Papa, ihr richtiger Papa, nicht die Kerle, die sich bei ihrer Mutter einquartierten, immer im Ausland war. Jedes Mal, wenn er nach Hause käme, würde er ihr tolle Geschenke machen. Die könnte sie aber niemandem zeigen, weil ihr Papa nicht wollte, dass sie damit vor den anderen angab. Wieder anderen Mädchen erzählte sie, dass ihr Papa eine riesengroße Villa besäße und dass sie manchmal bei ihm übernachten durfte und alles bekam, was sie sich wünschte, weil er so reich war.
Mit zunehmendem Alter fielen die Geschichten wirklichkeitsnaher aus. Ihre Mutter hatte ihnen gegenüber einmal erwähnt, dass Erlendur ihres Wissens nach immer noch bei der Polizei war. In all den schwierigen Zeiten, die Eva jetzt durchlief, als sie mit dreizehn, vierzehn Jahren zu rauchen begann, Hasch probierte und Alkohol trank – die ganze Zeit wusste Eva immer von ihrem Vater irgendwo in der Stadt. Mit der Zeit war sie sich aber nicht mehr so sicher, ob sie ihn kennen lernen wollte.
»Vielleicht«, hatte sie zu Sindri gesagt, »vielleicht ist es einfach besser, ihn nur im Kopf zu haben.« Sie ging davon aus, dass sie mit ihm, genau wie mit allen anderen, bestimmt nur Enttäuschungen erleben würde.
»Da hat sie sicher Recht gehabt«, sagte Erlendur.
Er hatte sich in seinen Sessel gesetzt. Sindri kramte wieder die Zigarettenschachtel hervor.
»Sie war auch nicht gerade attraktiv, mit diesen ganzen Piercings oder wie das Zeugs heißt«, sagte Erlendur. »Sie kommt nicht aus den eingefahrenen Bahnen heraus. Sie hat nie Geld und macht sich immer an jemanden heran, der den Stoff entweder ins Land oder unter die Leute bringt, und an den hängt sie sich. Egal wie widerlich sie von denen behandelt wird, sie hält sich immer an solche Typen.«
»Ich will versuchen, mit ihr zu reden«, sagte Sindri. »Trotzdem denke ich aber, dass sie darauf wartet, dass du kommst und sie rettest. Ich hab das Gefühl, sie pfeift auf dem letzten Loch. Sie ist oft übel dran gewesen, aber so schlimm wie jetzt habe ich sie noch nie erlebt.«
»Warum hat sie sich die Haare abgeschnitten, als sie zwölf war?«, fragte Erlendur.
»Da war ein Kerl, der sich an sie rangemacht und ihr den Kopf getätschelt hat, und dabei hat er ihr obszöne Sachen gesagt«, erklärte Sindri.
Er warf das ganz lässig ins Gespräch, und es hatte ganz den Anschein, als könnte er noch jede Menge mehr ausgraben, wenn er in seiner Erinnerung kramte.
Sindris Blicke glitten an den Bücherregalen entlang. In der Wohnung gab es fast nichts außer Büchern.
Erlendur ließ sich keinerlei Reaktion anmerken, aber seine Augen waren kalt wie Marmor.
»Eva hat mir erzählt, du würdest dich dauernd mit solchen verschollenen Typen beschäftigen.«
»Ja«, sagte Erlendur.
»Machst du das wegen deinem Bruder?«
»Vielleicht. Wahrscheinlich sogar.«
»Eva hat auch gesagt, dass du gesagt hast, du seist der verschollene Typ in ihrem Leben.«
»Ja. Auch wenn Leute verschollen sind, müssen sie nicht unbedingt tot sein«, sagte Erlendur und sah vor seinem inneren Auge einen schwarzen Ford Falcon am Busbahnhof in Reykjavík, an dem eine Radkappe fehlte.
Sindri übernachtete nicht bei Erlendur, der ihm das Sofa im Wohnzimmer anbot. Sindri lehnte aber dankend ab und verabschiedete sich. Nachdem sein Sohn gegangen war, saß Erlendur noch lange im Sessel, während ihm wirre Gedanken durch den Kopf gingen, Gedanken an seinen Bruder und an Eva Lind, an das Wenige, woran er sich erinnern konnte, aus der Zeit, als sie klein war. Sie war zwei Jahre alt, als er sich scheiden ließ. Die Geschichten, die Sindri über Evas Jugend erzählt hatte, hatten eine empfindliche Saite in ihm angerührt, und er sah das, was zwischen ihnen vorgefallen war, in einem anderen und noch trostloseren Licht als zuvor.
Als er kurz vor Mitternacht ins Bett ging und einschlief, kreisten seine Gedanken immer noch um seinen Bruder, um Eva Lind und um Sindri, und er hatte einen sonderbaren Traum. Sie machten zu dritt einen Ausflug mit dem Auto, er und seine Kinder. Die beiden saßen hinten, er war am Steuer und wusste nicht, wo er sich befand, denn draußen war das Licht so grell, dass er keine Landschaft erkennen konnte.
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