Kaeltezone
begab er sich zur alten Stasizentrale am Dittrichring. Jetzt saßen aber keine Stasimitarbeiter mehr im Anmeldezimmer, sondern eine junge Frau, die ihn freundlich anlächelte und ihm eine Informationsbroschüre reichte. Er sprach immer noch recht gut Deutsch und erzählte ihr, dass er zu Gast sei und sich das Gebäude ansehen wolle. Außer ihm befanden sich noch zahlreiche andere Menschen dort und gingen durch offene Türen von einem Raum zum anderen, ohne dass jemand etwas sagte. Die junge Frau hörte, dass er Ausländer war, und auf ihre Frage, woher er käme, sagte er ihr, dass er Isländer sei. Sie erklärte, dass aus der ehemaligen Stasizentrale ein Museum gemacht werden solle. Er könne sich gern den Vortrag anhören, der gleich beginnen würde, und sich dann im Haus umschauen. Sie begleitete ihn in den Bürotrakt, wo Stühle aufgestellt worden waren. Alle waren besetzt, und einige Zuhörer lehnten an der Wand. In dem Vortrag ging es um die Inhaftierungen oppositioneller Schriftsteller in den siebziger Jahren.
Als der Vortrag zu Ende war, betrat er das Büro mit der kleinen Nische, wo Lothar und der Mann mit dem buschigen Schnauzbart ihm zugesetzt hatten. Die Zelle daneben stand offen, und er betrat sie. Vielleicht ist Ilona hier gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Die Wände der Zelle waren mit Kritzeleien bedeckt, und er überlegte, ob sie womöglich mit einem Löffel gemacht worden waren.
Er hatte einen Antrag gestellt, die Akten bei der Behörde für Stasi-Unterlagen einsehen zu dürfen. Dort half man den Menschen dabei, Nachforschungen über verschollene Angehörige anzustellen oder die eigenen Akten mit den Informationen zu finden, die man im Zuge der gegenseitigen Kontrolle von Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Familienangehörigen gesammelt hatte. Journalisten, Wissenschaftler und diejenigen, die glaubten, in den Akten erwähnt zu sein, konnten solche Anträge stellen, und das hatte er von Island aus sowohl schriftlich als auch telefonisch getan. Der Antragsteller musste präzise und ausführlich begründen, weswegen er die Akten einsehen wollte und wonach er suchte. Ihm war bekannt, dass tausende von braunen Umschlägen mit solchen Informationen in den letzten Tagen des DDR-Regimes in den Reißwolf gewandert waren und dass zahllose Personen daran arbeiteten, sie wieder zusammenzufügen. Der Umfang dieser Dokumente war ungeheuerlich.
Seine Reise nach Deutschland zeitigte keinen Erfolg. Trotz intensiver Suche fand er nicht das Geringste über Ilona. Ihm wurde gesagt, dass ihre Akten wahrscheinlich vernichtet worden waren. Möglicherweise sei sie in die Arbeits-und Gefangenenlager in der Sowjetunion geschickt worden, und dann bestünde die Möglichkeit, in Moskau etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Denkbar war auch, dass sie in den Händen des Staatssicherheitsdienstes zu Tode gekommen war, in Leipzig oder in Berlin, falls man sie dorthin gebracht hätte.
In den alten Stasiakten fand er ebenfalls nichts über den Verräter, der damals seine einzige große Liebe an die Staatssicherheit ausgeliefert hatte.
Jetzt saß er da und wartete darauf, dass die Polizei vor seiner Tür auftauchte. Das hatte er den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein getan, ohne dass etwas passiert war. Er war überzeugt, dass die Polizei früher oder später bei ihm erscheinen würde, und er hatte sich Gedanken gemacht, wie er darauf reagieren sollte. Würde er so tun, als sei nichts geschehen, und alles abstreiten und so tun, als fiele er aus allen Wolken? Es hinge vielleicht davon ab, was sie herausgefunden hatten. Er hatte keine Ahnung, was das sein könnte, stellte sich aber vor, dass sie gut vorbereitet sein müssten, wenn es ihnen einmal gelungen war, die Spur bis zu ihm zurückzuverfolgen.
Er starrte vor sich hin, und seine Gedanken wanderten wieder nach Leipzig zurück.
Die Worte, die Lothar bei ihrem letzten Zusammentreffen gesprochen hatte, hatten sich ihm bis auf den heutigen Tag wie ein Brandmal eingeprägt, und so würde es bis zum bitteren Ende bleiben. Drei Worte, die alles sagten.
Sondier deine Umgebung.
Neunundzwanzig
Elínborg und Erlendur meldeten sich nicht vorher an. Sie wussten so gut wie gar nichts über diesen Mann, mit dem sie sich unterhalten wollten. Er hieß Hannes und hatte seinerzeit in Leipzig studiert. Er betrieb ein kleines Hotel in Selfoss und züchtete außerdem Tomaten. Sie fuhren direkt zu seiner Privatadresse und parkten das Auto vor einem Bungalow, der genauso aussah wie
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