Kaeltezone
waren gekommen, um sie zu verhaften, und sie haben sie abgeführt.«
»Hat sie Angst gehabt?«
Karl und Emíl schauten ihn teilnahmsvoll an.
»Nein«, sagte Karl. »Sie hatte keine Angst. Sie hat gefragt, wonach sie suchten und ob sie ihnen behilflich sein könnte. Und dann gingen sie mit ihr weg. Sie bat mich noch, dir zu sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen würde.« »Wie hat sie sich genau ausgedrückt?«
»Ich sollte dir sagen, dass alles in Ordnung kommen würde. Das hat sie gesagt, und ich sollte es dir ausrichten. Dass alles in Ordnung kommen würde.«
»Das hat sie gesagt?«
»Dann wurde sie ins Auto gebracht. Sie waren mit zwei Autos gekommen. Ich rannte hinterher, aber das war natürlich hoffnungslos. Sie verschwanden um die Ecke. Das war das Letzte, was ich von Ilona gesehen habe.«
»Was wollten diese Kerle?«, stöhnte er. »Was haben sie mit ihr gemacht? Warum will niemand mir etwas sagen? Warum kriegt man keine Antworten? Was werden sie mit ihr machen? Was können sie ihr antun?«
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Was um alles in der Welt ist geschehen?«, stöhnte er.
»Vielleicht kommt es ja wieder in Ordnung«, sagte Emíl und versuchte, ihn zu trösten. »Vielleicht ist sie schon wieder zu Hause. Vielleicht kommt sie morgen nach Hause.« Er schaute Emíl mit verstörten Augen an. Karl saß stumm da.
»Wusstet ihr, dass … nein, natürlich habt ihr das nicht gewusst.«
»Was?«, fragte Emíl. »Was sollen wir gewusst haben?«
»Sie hat es mir gesagt, als wir uns zuletzt sahen. Niemand hat etwas gewusst.«
»Was wusste niemand?«, sagte Emíl.
»Dass sie schwanger ist«, sagte er. »Sie hatte es gerade erfahren. Wir bekommen ein Kind! Kapierst du jetzt? Kapierst du, wie abscheulich das ist? Diese verdammte Scheißbespitzelei und die Denunziationen dieser Arschlöcher! Was für Scheusale sind das? Was sind das für Menschen?! Für was kämpfen die? Wollen sie eine bessere Welt, indem sie einander bespitzeln? Wie lange wollen sie das Land hier mit Hilfe von Angst und Menschenverachtung regieren?«
»Sie war schwanger?«, stöhnte Emíl.
»Ich hätte bei ihr sein sollen, Karl, und nicht du. Ich hätte nie zugelassen, dass sie sie abführen. Niemals.«
»Willst du etwa mir die Schuld daran geben?,« fragte Karl. »Es war nicht möglich, etwas zu tun. Ich konnte gar nichts machen.«
»Nein«, sagte er und legte die Hände vors Gesicht, um seine Tränen zu verbergen. »Natürlich nicht. Natürlich trägst du keine Schuld.«
Später, nachdem er gezwungen worden war, Leipzig und die DDR zu verlassen, und er seine Abreise vorbereitete, hatte er ein letztes Mal Lothar aufgesucht. Er traf ihn im FDJ-Büro an der Universität. Er hatte nicht das Geringste über Ilona herausgefunden. Die Angst und die Sorge, die ihn in den ersten Tagen und Wochen auf der Suche nach ihr vorangetrieben hatten, waren Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit gewichen, die ihn beinahe erdrückten.
Lothar schäkerte im Büro mit zwei jungen Frauen, die über etwas, das er gesagt hatte, kicherten. Sie verstummten, als er eintrat. Er bat Lothar um ein Gespräch unter vier Augen.
»Und worum geht es diesmal?«, fragte Lothar, ohne sich zu rühren. Die beiden Frauen schauten ihn an, ihre Mienen waren jetzt ernst. Ilonas Verhaftung war wie ein Lauffeuer durch die ganze Universität gegangen. Sie war als Verräterin angeprangert worden, und es hieß, man hätte sie nach Ungarn abgeschoben. Er wusste, dass das eine Lüge war.
»Ich würde gern mit dir reden«, sagte er. »Ist das möglich?«
»Du weißt, dass ich nichts für dich tun kann«, sagte Lothar. »Ich habe dir das bereits gesagt. Lass mich in Ruhe.«
Lothar wandte sich wieder den beiden Frauen zu, um weiter mit ihnen seine Späße zu machen.
»Hast du etwas mit Ilonas Verhaftung zu tun gehabt?«, fragte er und war jetzt ins Isländische übergewechselt.
Lothar wandte ihm den Rücken zu und antwortete nicht. Die Blicke der Mädchen wanderten zwischen ihnen hin und her.
»Du hast vielleicht sogar selber den Befehl zur Verhaftung gegeben«, sagte er und hob die Stimme. »Hast du ihnen gesagt, dass sie gefährlich wäre? Dass man sie aus dem Verkehr ziehen müsste? Dass sie antikommunistische Propaganda verbreitete? Dass sie Widerstandstreffen organisierte? Warst du es, Lothar? War das deine Aufgabe?«
Lothar tat, als hörte er ihn nicht, und sagte stattdessen etwas zu den beiden Frauen, die albern grinsten.
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