Kaeltezone
Jahren zusammen durch die Stadt gegangen waren. Es wurde langsam hell, und er sah im Geiste die beiden vor sich, wie sie durch Leipzig spazierten und bewundernd zur Thomaskirche aufschauten.
Eine junge Blumenverkäuferin kam ihm entgegen und bot ihm Blumensträuße an, aber für so etwas hatte er kein Geld und lächelte sie deswegen entschuldigend an.
Er freute sich auf all das, was vor ihm lag. Freute sich darauf, auf eigenen Füßen zu stehen und selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Er hatte keine Vorstellung davon, was ihn erwartete, aber er war gewillt, alles mit offenen Sinnen aufzunehmen. Er war sich sicher, dass er kein Heimweh bekommen würde, denn er war zu einem Abenteuer aufgebrochen, das sein ganzes weiteres Leben prägen sollte. Ihm war klar, dass das Studium kein Zuckerschlecken werden würde, aber die Vorstellung, sich ins Zeug legen zu müssen, schreckte ihn keineswegs ab. Er interessierte sich brennend für die Ingenieurwissenschaften. Er würde neue Menschen kennen lernen und neue Freunde gewinnen. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Studium anzufangen.
Bei leichtem Nieselregen spazierte er an Ruinen vorbei durch die Straßen, und er lächelte ein wenig, als er sich die Freunde von einst vorstellte, wie sie durch dieselben Straßen schlenderten.
Als der Tag angebrochen war, holte er seinen Koffer vom Bahnhof, ging zur Universität und fand problemlos das Immatrikulationsbüro. Er wurde an ein Studentenwohnheim nicht weit vom Hauptgebäude verwiesen. Es befand sich in einer alten, ehrwürdigen Villa, die jetzt der Universität zur Verfügung stand. Er musste das Zimmer mit zwei anderen teilen. Der eine war Emíl, sein Klassenkamerad aus dem Gymnasium, und der andere stammte aus der Tschechoslowakei. Keiner von beiden war im Zimmer. Das Haus hatte drei Stockwerke, und im mittleren Stock befanden sich das gemeinsame Badezimmer und eine Küche. Überall hingen alte Tapeten in Fetzen von den Wänden herunter, die Holzböden waren verdreckt, und das ganze Haus roch irgendwie muffig. In seinem Zimmer befanden sich drei altersschwache Liegen und ein alter Schreibtisch. Eine kahle Birne hing von der Decke herunter, die irgendwann einmal verputzt gewesen war, aber der Putz war zum größten Teil abgebröckelt, sodass die morsche Holzverkleidung zum Vorschein kam. Das Zimmer hatte zwei Fenster, aber das eine davon war mit Brettern zugenagelt, die Scheibe war offenbar kaputt.
Aus den anderen Zimmern tauchten nach und nach verschlafene Studenten auf. Vor der Toilette bildete sich eine Warteschlange. Einige gingen in den Garten, um zu pinkeln. In der Küche hatte irgendjemand bereits einen gro- ßen Topf Wasser auf einen alten Herd gestellt, der neben einem vorsintflutlich anmutenden Backofen stand. Er sah sich nach seinem Freund um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er betrachtete die Gruppe in der Küche, und ihm wurde auf einmal klar, dass es sich um ein gemischtes Wohnheim handelte.
Eine von den jungen Frauen kam auf ihn zu und redete ihn auf Deutsch an. Er hatte zwar Deutsch am Gymnasium gelernt, verstand aber nicht gleich, was sie sagte. Er bat sie in seinem stockenden Deutsch, langsamer zu sprechen.
»Suchst du jemanden?«, fragte sie.
»Ich suche Emíl«, sagte er. »Er ist isländisch.«
»Bist du auch aus Island?«
»Ja. Und du, woher bist du?«
»Aus Dresden«, sagte die junge Frau. »Ich heiße Maria.« »Ich heiße Tómas«, sagte er, und sie gaben sich die Hand. »Tómas?«, wiederholte sie. »Hier an der Uni sind einige Isländer. Die treffen sich oft in Emíls Zimmer. Manchmal müssen wir sie rauswerfen, wenn sie nächtelang singen. Du sprichst ziemlich gut Deutsch.«
»Danke. Ich habe es im Gymnasium gelernt. Wo ist Emíl?« »Er schiebt wahrscheinlich Rattenwache«, sagte sie. »Unten im Keller. Hier wimmelt es von Ratten. Möchtest du einen Tee? Wir müssen uns hier selbst versorgen.«
»Rattenwache?«
»Die sind nachts unterwegs. Dann erwischt man sie am besten.«
»Gibt es viele davon?«
»Wenn wir zehn erwischen, kommen zwanzig nach. Trotzdem ist es jetzt besser als im Krieg.«
Unwillkürlich starrte er auf den Fußboden, als würde er erwarten, sie dort zwischen den Beinen der Leute herumhuschen zu sehen. Wenn es irgendetwas gab, wovor er sich ekelte, waren es Ratten.
Er spürte einen leichten Stoß gegen seine Schulter und als er sich umdrehte, stand sein Freund lächelnd hinter ihm. Er hatte zwei Ratten am Schwanz gepackt und hielt sie hoch. In der anderen
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