Kaeltezone
über seine Bücher gebeugt. Draußen war es kalt und ungemütlich. Es kam manchmal vor, dass es auch in der Bibliothek so kalt war, dass man bei den Benutzern den Atem sah, wenn sie etwas sagten. Hannes trug einen langen Mantel und eine Schirmmütze mit heruntergeschlagenen Ohrenklappen. Die Bibliothek hatte stark unter den Bombenangriffen im Krieg gelitten, und nur ein Teil davon war in Gebrauch.
»Du bist doch Hannes?«, fragte er freundlich. »Wir haben uns bislang noch nicht begrüßt.«
Hannes blickte von seinen Büchern auf.
»Ich heiße Tómas.« Er streckte die Hand aus.
Hannes schaute ihn und die ausgestreckte Hand an und vertiefte sich wieder in seine Lektüre.
»Lass mich in Frieden«, brummte er.
Er stutzte. Auf eine derartige Begrüßung war er nicht gefasst gewesen, und schon gar nicht von diesem Mann, der solches Ansehen genoss und ihn selber so fasziniert hatte. »Entschuldige«, sagte er. »Ich wollte dich nicht stören. Du lernst natürlich.«
Hannes antwortete ihm nicht, sondern fuhr fort, aus den aufgeschlagenen Büchern, die vor ihm lagen, zu exzerpieren. Er schrieb mit Bleistift und hatte Fingerlinge an, um die Hände warm zu halten.
»Ich habe mich nur gefragt, ob wir vielleicht mal zusammen einen Kaffee trinken könnten«, sagte er. »Oder ein Bier.«
Hannes antwortete nicht. Er stand neben ihm und wartete auf irgendeine Reaktion. Als sie nicht erfolgte, trat er ein paar Schritte zurück und drehte sich dann um. Er war im Begriff, in die nächste Regalreihe einzubiegen, als Hannes von den Büchern aufschaute und endlich antwortete.
»Hast du Tómas gesagt?«
»Ja. Wir sind uns nie begegnet, aber ich habe von dir gehö…«
»Ich weiß, wer du bist«, unterbrach Hannes ihn. »Ich war einmal genau wie du. Was willst du von mir?«
»Nichts«, sagte er. »Ich wollte dich nur begrüßen. Ich habe da drüben gesessen und dich gesehen. Ich wollte dich nur begrüßen. Ich war einmal auf einer Veranstaltung, wo du …«
»Wie findest du Leipzig?«, fiel Hannes ihm ins Wort.
»Es ist scheißkalt hier, und das Essen ist mies, aber die Uni ist gut. Und wenn ich wieder nach Hause komme, werde ich als Erstes dafür kämpfen, dass Bier erlaubt wird.«
Hannes lächelte.
»Das stimmt, das Bier ist das Beste an dieser Stadt.«
»Wir könnten vielleicht mal zusammen eins trinken gehen«, sagte er.
»Vielleicht«, entgegnete Hannes und wandte sich wieder seinen Büchern zu. Ihr Gespräch war beendet.
»Was meinst du damit, dass du einmal so gewesen bist wie ich?«, fragte er vorsichtig. »Was willst du damit sagen?«
»Nichts«, sagte Hannes und blickte zu ihm hoch. Da war so etwas wie ein Zögern, aber dann schien es ihm auf einmal egal zu sein, ob er mit der Sprache herausrückte oder nicht. »Du darfst das nicht so ernst nehmen«, sagte er. »Das bringt dir nichts.«
Völlig verwirrt verließ er die Bibliothek und ging hinaus in den kalten Winterwind. Auf dem Weg zum Wohnheim traf er Emíl und Rut. Sie hatten ein Paket abgeholt, das Ruts Eltern geschickt hatten. Isländisches Essen, auf das sie sich freuten. Er erzählte ihnen nichts von dem Gespräch mit Hannes, denn er begriff nicht so recht, was Hannes gemeint hatte.
»Lothar hat nach dir gesucht«, sagte Emíl. »Ich habe ihm gesagt, dass du in der Unibibliothek wärst.«
»Ich habe ihn nicht gesehen«, erwiderte er. »Weißt du, was er von mir wollte?«
»Keine Ahnung«, sagte Emíl.
Lothar war ihr so genannter Betreuer. Alle Ausländer an der Universität hatten einen solchen Betreuer, an den sie sich wenden konnten und der ihnen behilflich war. Lothar hatte sich mit den isländischen Studenten im Wohnheim angefreundet. Er half ihnen in allen universitären Belangen, und manchmal bezahlte er in Auerbachs Keller die Rechnung für sie. Er sagte, dass er gerne einmal nach Island fahren würde. Er sprach sehr gut Isländisch, konnte sogar ein paar Schlager auswendig. Er interessierte sich insbesondere für die isländischen Sagas und behauptete, die Saga vom weisen Njáll gelesen zu haben und sie ins Deutsche übersetzen zu wollen. Er bot den isländischen Studenten an, mit ihnen einen Stadtrundgang zu machen.
»Da ist das Haus«, sagte Rut auf einmal und blieb stehen. »Hier sind die Büros. Es gibt auch Gefängniszellen da drin.«
Sie nahmen das Gebäude in Augenschein, ein düsteres vierstöckiges Haus. Im Erdgeschoss waren sämtliche Fenster mit Brettern vernagelt. Er sah das Straßenschild, Dittrichring. Nummer
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