Kaeltezone
24.
»Gefängniszellen? Was ist das für ein Haus?«, fragte er.
»Da drin sitzt die Staatssicherheitspolizei«, sagte Emíl so leise, als könne ihn jemand hören. »Das ist die Stasizentrale.«
»Die Stasi«, sagte Rut.
Er schaute wieder am Haus hoch. Die schwache Straßenbeleuchtung warf ein trübes Licht auf die Steinwände, und ihn durchfuhr ein kleiner Schauder. Er spürte kein Bedürfnis, dieses Haus je zu betreten, aber er konnte nicht wissen, wie wenig seine Intentionen gegen ihren Willen auszurichten vermochten.
Er seufzte tief und blickte aufs Meer hinaus, wo ein kleines Segelboot vorbeiglitt.
Jahrzehnte später, nach dem Fall der Mauer, war er noch einmal in die Stasizentrale gegangen, wo ihm der alte Geruch entgegenschlug und ihm sofort einen Würgereiz verursachte, genau wie damals bei der Ratte, die in einem Rohr hinter dem Backofen stecken geblieben war. Sie benutzten den Ofen häufig zum Braten und Backen, ohne von dem Tier zu wissen, bis der Gestank in der alten Villa unerträglich wurde.
Acht
Erlendur sah Marian an. Marian Briem saß auf einem Sessel im Wohnzimmer, hatte eine Kunststoffmaske vor dem Gesicht und bekam Sauerstoff für die Lungen. Als ehemaliger Kollege hatte er Marian Briem zuletzt zu Weihnachten besucht, und damals hatte er nicht gewusst, wie krank Marian war. Er hatte sich im Dezernat erkundigt und erfahren, dass die Lungen nach jahrzehntelangem Kettenrauchen hinüber waren. Eine Embolie hatte eine rechtsseitige Lähmung zur Folge gehabt, die Handbewegungen und Gesichtsmuskeln beeinträchtigte. Trotz des Sonnenscheins draußen war es dämmrig in der Wohnung, überall lag eine dicke Staubschicht. Marian Briem erhielt einmal am Tag Besuch von einer Krankenpflegerin, die gerade im Begriff war, zu gehen, als Erlendur eintraf.
Er nahm auf dem tiefen Sofa Platz und dachte daran, wie übel das Alter Marian mitgespielt hatte. Die Haut spannte sich über den Knochen, und der große Kopf zitterte beständig. Im Gesicht trat jeder einzelne Knochen hervor, und die Augen waren tief eingesunken. Das gelbliche Haar stand wirr um den Kopf. Erlendurs Blicke blieben an den nikotingelben Fingern mit den rissigen Nägeln hängen, die auf der Sessellehne ruhten. Marian schlief.
Die Krankenpflegerin hatte Erlendur hereingelassen, der schweigend darauf wartete, dass Marian aufwachte. Er musste daran denken, wie er vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal bei der Kriminalpolizei zur Arbeit erschien.
»Was ist eigentlich mit dir los?«, hatte Marian Briem zu ihm gesagt. »Kannst du nicht lächeln?«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wusste nicht, was er von dieser kleinwüchsigen Gestalt zu halten hatte, die ständig eine Zigarette zwischen den Fingern hatte und immer von beißendem, blauem Zigarettenqualm umgeben war.
»Warum willst du dich ausgerechnet mit kriminellen Delikten befassen?«, fuhr Marian Briem fort, als Erlendur keine Antwort gab. »Warum bleibst du nicht einfach bei der Polizei und regelst den Verkehr?«
»Ich dachte, ich könnte mich hier nützlich machen«, sagte Erlendur.
Das kleine Büro war mit Ordnern und Papierstapeln voll gestopft. Ein Riesenaschenbecher auf dem Schreibtisch quoll über von Kippen. Der Raum war völlig verqualmt, was Erlendur aber nicht störte. Er rauchte selber und zog eine Zigarette aus seiner Tasche.
»Hast du irgendein spezielles Interesse an Verbrechen?«, fragte Marian Briem.
»An bestimmten«, sagte Erlendur und griff nach einer Streichholzschachtel.
»An bestimmten?«
»Ich interessiere mich für Leute, die spurlos verschwinden.«
»Für Leute, die spurlos verschwinden? Wieso denn das?« »Es war schon immer so. Ich …« Erlendur zögerte.
»Was? Was wolltest du sagen?« Marian Briem zündete sich die nächste Zigarette mit einem noch brennenden Stummel an, der im Anschluss daran zu all den anderen Kippen in den Aschenbecher wanderte. »Was dauert das bei dir, bis du dir was aus der Nase ziehen lässt! Wenn du auch bei der Arbeit so ein Schneckentempo vorlegst, hast du hier bei mir nichts zu suchen. Also heraus damit!«
»Ich bin der Überzeugung, dass solche Fälle viel öfter etwas mit Verbrechen zu tun haben, als gemeinhin angenommen wird«, sagte Erlendur. »Beweisen kann ich das natürlich nicht. Es ist nur so ein Gefühl.«
Erlendur tauchte wieder aus seinen Erinnerungen auf. Er sah, wie Marian den Sauerstoff einatmete. Er schaute aus dem Wohnzimmerfenster. Nur so ein Gefühl, dachte er.
Marian Briem
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