Kaeltezone
Hand trug er eine große Schaufel.
»Am besten schlägt man sie mit einer Schaufel tot«, sagte Emíl.
Er gewöhnte sich erstaunlich schnell an die Verhältnisse, an den muffigen Geruch und den Toilettengestank, der vom mittleren Stockwerk ausging und das ganze Haus durchzog, an die altersschwachen Liegen, die wackligen Stühle und die primitive Küche. Er dachte einfach nicht zu viel darüber nach, weil er wusste, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen würde.
Die Universität hingegen war hervorragend, auch wenn sie nicht sonderlich gut ausgestattet war. Die Dozenten waren bestens ausgebildet, und die Studenten waren motiviert. Er kam gut im Studium voran. Er lernte seine Kommilitonen und Kommilitoninnen in den Ingenieurwissenschaften kennen, die aus Leipzig und aus anderen Städten in der DDR – oder aus Nachbarländern in Osteuropa – stammten. Einige erhielten wie er ein Stipendium der DDR-Regierung. Ansonsten schienen die Studierenden an der Karl-Marx-Universität aus allen Teilen der Welt zu kommen. Er traf auf Kubaner und auf Chinesen, die aber meist unter sich blieben. Auch Nigerianer studierten dort, und in der alten Villa wohnte im Zimmer neben ihm ein lustiger Inder, der Deependra hieß.
Das kleine Häufchen Isländer in der Stadt hielt zusammen. Karl, der in einem Fischerdorf im Norden aufgewachsen war, studierte Politikwissenschaft. Dieser Studiengang wurde das »Rote Kloster« genannt, und es hieß, dass dort nur diejenigen zugelassen wurden, die kompromisslos der Parteilinie folgten. Rut kam aus Akureyri und hatte im dortigen Gymnasium das Abitur gemacht. Sie war Vorsitzende der Jugendorganisation in ihrer Stadt und studierte hier Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Russische Literatur. Hrafnhildur studierte Germanistik, und Emíl, der aus Westisland kam, hatte sich in Volkswirtschaft eingeschrieben. Die meisten von ihnen waren mehr oder weniger von der Partei für ein Stipendium ausgewählt worden, damit sie in der DDR studieren konnten. Sie kamen abends zusammen und spielten Karten oder hörten sich Jazzplatten von Deependra, dem Inder, an. Oder sie gingen in eine Kneipe in der Nähe und hatten großen Spaß daran, lauthals isländische Lieder zu singen. Es gab einen rührigen Filmclub, und sie schauten sich Panzerkreuzer Potemkin an. Sie diskutierten die Bedeutung des Films als Propagandamedium. Mit den anderen Studenten diskutierten sie über Politik. Man war verpflichtet, zu den Veranstaltungen und Vorträgen der Freien Deutschen Jugend, der FDJ, zu erscheinen, eine andere Studentenorganisation war nicht zugelassen. Alle hatten sie sich zum Ziel gesetzt, eine neue und bessere Welt zu schaffen.
Bis auf einen. Hannes war länger als die anderen Isländer in Leipzig gewesen und hielt sich von der Gruppe fern. Es vergingen zwei Monate, bevor er Hannes zum ersten Mal traf. Daheim in Reykjavík hatte er so viel über ihn gehört, und er wusste, dass ihm von Seiten der Partei wichtige Aufgaben zugedacht waren. Der Parteivorsitzende hatte ihn auf einer Redaktionskonferenz namentlich erwähnt und gesagt, dass diesem Mann die Zukunft gehörte. Hannes hatte genau wie er selbst als Journalist beim Parteiorgan gearbeitet, und auch in der Redaktion wurde über ihn gesprochen. Auf politischen Veranstaltungen in Reykjavík hatte er Hannes reden hören und sich von seinem Enthusiasmus mitreißen lassen: Es faszinierte ihn, was er über die Demokratie in Island sagte, die sich durch den Kriegsgewinn der Wild-West-Cowboys habe korrumpieren lassen, und dass isländische Politiker in den Händen der amerikanischen Imperialisten wie Marionetten seien. »Die Demokratie in diesem Lande ist einen Dreck wert, solange amerikanisches Militär unsere isländische Erde besudelt!«, rief er unter tosendem Beifall. Während der ersten Jahre seines Studiums in der DDR schrieb Hannes unter der Rubrik »Briefe aus dem Osten« feste Beiträge für das Parteiorgan, in denen er die vorbildlichen Errungenschaften des kommunistischen Staates pries, aber dann kamen auf einmal keine Beiträge mehr. Die anderen Isländer in Leipzig wussten wenig über Hannes zu berichten. Er hatte sich im Lauf der Zeit abgesondert und blieb meist für sich. Sie unterhielten sich manchmal über ihn, zuckten dann aber meist mit den Achseln, als ginge es sie nichts an.
Eines Tages traf er Hannes zufällig in der Universitätsbibliothek. Es war gegen Abend, und im Lesesaal waren nur noch wenige Studenten. Hannes saß
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