Kaeltezone
den Fall bearbeitet?«
»Ich war am See, als die Apparate aus dem Wasser gezogen wurden, aber ich war nicht mit der Leitung der Ermittlung beauftragt. Die Sache hat damals ungeheures Aufsehen erregt. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, und die russische Spionagetätigkeit hierzulande war eine Tatsache. Die Amerikaner haben selbstredend auch spioniert, aber sie waren die befreundete Nation. Der Russe war der Feind.«
»Sendegeräte?«
»Ja. Und Abhöranlagen. Es stellte sich heraus, dass einige von ihnen auf die Frequenz der amerikanischen Basis eingestellt waren.«
»Du willst also das Skelett mit diesen Apparaten in Verbindung bringen?«
»Was glaubst du wohl?«, sagte Marian Briem und schloss die Augen.
»Das klingt nicht unwahrscheinlich.»
»Behalte es im Hinterkopf«, sagte Marian Briem, und das Gesicht verzerrte sich vor Erschöpfung.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Erlendur. »Kann ich dir vielleicht etwas besorgen?«
»Ich leih mir manchmal Western aus«, erklärte Marian nach längerem Schweigen und saß immer noch mit geschlossenen Augen da.
Erlendur war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Western?«, fragte er. »Meinst du Cowboyfilme?«
»Kannst du mir einen richtig guten Western besorgen?«
»Was ist ein guter Western?«
»John Wayne«, sagte Marian, und seine Stimme wurde noch schwächer.
Erlendur blieb noch eine Weile sitzen, falls Marian wieder aufwachen würde. Es war später Vormittag. Er ging in die Küche, kochte Kaffee und füllte zwei Tassen damit. Er erinnerte sich, dass Marian den Kaffee schwarz und ohne Zucker trank, genau wie er selber. Er stellte die Tasse neben den Sessel, in dem Marian saß. Er wusste nicht, was er sonst tun konnte.
Western!, dachte er bei sich, als er das Haus verließ.
Nicht zu fassen, sagte er zu sich selbst, als er losfuhr.
Am späten Nachmittag setzte sich Sigurður Óli zu Erlendur ins Büro. Der Mann hatte wieder mitten in der Nacht angerufen und gesagt, er würde Selbstmord begehen. Sigurður Óli hatte einen Streifenwagen zu seinem Haus geschickt, die Polizisten fanden aber niemanden vor. Der Mann lebte allein in einem kleinen Einfamilienhaus. Die Polizei verschaffte sich Zutritt, aber das Haus war leer.
»Und dann hat er heute Morgen schon wieder angerufen«, sagte Sigurður Óli, nachdem er die Geschichte erzählt hatte. »Da war er wieder zu Hause. Passiert ist gar nichts. Dieser Mann geht mir langsam, aber sicher auf den Geist.« »Ist das der, der seine Frau und sein Kind verloren hat?«
»Ja. Aus unerfindlichen Gründen gibt er sich selber die Schuld daran und verschließt sich völlig vernünftigen Argumenten.»
»Es war doch purer Zufall, oder?«
»Nein, in seinen Augen nicht.«
Sigurður Óli hatte eine Zeit lang in der Sektion für Unfallanalyse gearbeitet. Ein großer Jeep war an einer Kreuzung in Breiðholt einem kleinen Pkw in die Seite gefahren, mit der Folge, dass eine Mutter und ihre fünfjährige Tochter den Tod fanden. Der Fahrer des Jeeps stand unter Alkohol und war bei Rot über die Ampel gefahren. Das Auto, in dem sich Mutter und Tochter befanden, war das letzte in einer langen Reihe, das die Kreuzung überquerte. Genau in dem Augenblick überfuhr der Jeep in rasantem Tempo die rote Ampel. Wenn die Mutter abgewartet hätte und erst bei der nächsten Grünphase losgefahren wäre, hätte der Jeep keinen Schaden anrichten können, sondern einfach die Kreuzung überquert und wäre weitergerast. Wahrscheinlich hätte der betrunkene Fahrer dann irgendwo anders einen Unfall verursacht, aber auf jeden Fall nicht an dieser Kreuzung.
»Aber so passieren doch die meisten Unfälle«, sagte Sigur- ður Óli zu Erlendur. »Gemeine Zufälle. Und das begreift er nicht, dieser Mann.«
»Sein Gewissen peinigt ihn«, sagte Erlendur. »Versuch doch, ihm mehr Verständnis entgegenzubringen.«
»Verständnis?! Er ruft mitten in der Nacht bei mir zu Hause an. Kann man mehr Verständnis zeigen, als das über sich ergehen zu lassen?«
Die Frau war im Einkaufszentrum Smáralind gewesen. Sie hatte schon an der Kasse im Supermarkt gestanden, als er sie auf ihrem Handy anrief und sie bat, noch eine Schachtel Erdbeeren mitzubringen. Das machte sie, aber dadurch vergingen einige weitere Minuten, bis sie losfuhr. Der Mann war überzeugt, dass sie nicht in dem entscheidenden Augenblick an der Kreuzung gewesen wäre, wenn er sie nicht angerufen hätte, und folglich wäre der Jeep dann nicht in ihr Auto gerast. Deswegen
Weitere Kostenlose Bücher