Kafka am Strand
befragt, mit dem sie nichts zu tun hatten. Die Kinder konnten sich gut daran erinnern, wie sie auf den Berg gekommen waren und angefangen hatten, Pilze zu sammeln. Aber was danach passiert war, war wie aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ihnen war nicht einmal bewusst, dass Zeit vergangen war. Sie hatten Pilze gesammelt, dann war der Vorhang gefallen, und im nächsten Augenblick fanden sie sich von Erwachsenen umringt auf dem Boden liegend wieder. Da sie unsere ernsten Gesichter und unsere Aufregung nicht verstanden, verschreckten wir die Kinder mit unserer Anwesenheit eher.
Leider befand sich unter ihnen ein Junge, der das Bewusstsein nicht zurückerlangte. Er gehörte zu den aus Tokyo evakuierten Kindern und hieß Satoru Nakata. Ich erinnere mich noch genau an den Namen. Ein zierliches, blasses Kind. Er war der einzige, der einfach nicht wieder zu sich kam. Er blieb weiter liegen und bewegte die Augen hin und her, bis wir ihn huckepack den Hang hinuntertrugen. Die anderen Kinder liefen selbst hinunter, als sei nichts geschehen.
Blieben außer bei Nakata auch bei anderen Kindern Symptome zurück?
Nein. Es war durchaus nichts Auffälliges mehr festzustellen. Weder klagten sie über Schmerzen noch über Übelkeit. Als wir wieder in der Schule waren, rief ich alle der Reihe nach in das Sanitätszimmer, maß Fieber, hörte sie mit dem Stethoskop ab, prüfte ihre Sehstärke und untersuchte alles, was ich vorläufig untersuchen konnte. Ich ließ sie einfache Rechenaufgaben lösen und mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen. Doch alle ihre Körperfunktionen waren normal. Sie waren anscheinend nicht einmal besonders erschöpft. Appetit hatten sie auch. Da sie nicht zu Mittag gegessen hatten, klagten alle über Hunger und vertilgten die Reisklöße, die verteilt wurden, bis zum letzten Körnchen.
Da mir der Vorfall keine Ruhe ließ, schaute ich ein paar Tage später wieder in der Schule vorbei, um mir die betroffenen Kinder noch einmal anzusehen. Ich rief einige ins Sanitätszimmer und führte ein einfaches Gespräch mit ihnen. Aber es war absolut nichts Ungewöhnliches festzustellen. Die sonderbare Erfahrung, zwei Stunden bewusstlos im Wald gelegen zu haben, hatte bei den Kindern weder seelische noch körperliche Spuren hinterlassen. Ja, sie schienen sich nicht einmal daran zu erinnern, dass etwas vorgefallen war. Die Kinder waren in ihren Alltag zurückgekehrt und führten ihr gewohntes Leben. Sie hatten Unterricht, sangen und rannten bei schönem Wetter in den Pausen auf dem Schulhof umher. Nur die verantwortliche Lehrerin schien einen erheblichen Schock davongetragen zu haben.
Der Junge mit Namen Nakata wurde, nachdem er auch in der Nacht das Bewusstsein nicht zurückerlangt hatte, am folgenden Tag nach Kofu in die Universitätsklinik gebracht. Von dort wurde er umgehend in ein Militärhospital verlegt und ist nicht wieder in unseren Ort zurückgekehrt. Was aus dem Jungen geworden ist, haben wir nie erfahren.
Die Zeitungen berichteten nicht über den Vorfall. Vielleicht hatten die Behörden es verboten, um eine Panik bei der Bevölkerung zu verhindern. Wegen des Krieges war die Armee überaus nervös, was Gerüchte anging. Die Kriegslage war schlecht. Auch aus dem Süden wurden unentwegt Rückzüge und Verluste gemeldet, während die amerikanische Armee mit zunehmender Heftigkeit die Städte bombardierte. Daher befürchtete man, dass sich in der Zivilbevölkerung Kriegsgegnerschaft und Kriegsmüdigkeit ausbreiten würden. Nach einigen Tagen wurden wir von unserer Polizei strikt angewiesen, jede unbefugte Erörterung des Vorfalls zu verhindern.
Zumindest hinterließ die Sache einen bitteren Nachgeschmack. Ehrlich gesagt, sie lag mir ziemlich auf der Seele.
5
Als der Bus die riesige Brücke über die Inlandsee überquert, schlafe ich tief und fest. Eigentlich habe ich mich darauf gefreut, die Brücke, die ich nur von der Karte kenne, mit eigenen Augen zu sehen.
Jemand rüttelt mich leicht an der Schulter, um mich zu wecken.
»Wir sind da«, sagt sie.
Ich strecke mich auf dem Sitz, reibe mir die Augen und sehe aus dem Fenster. Wirklich, der Bus steht auf so etwas wie einem Bahnhofsvorplatz. Das Licht des neuen Morgens erfüllt die Umgebung. Ein blendendes, aber irgendwie heiteres Licht. Es kommt mir etwas anders vor als das Licht in Tokyo. Ich schaue auf die Uhr. 6 Uhr 32.
»Uff, das war eine lange Fahrt«, sagt sie mit erschöpfter Stimme.
»Mein Hintern ist Matsch, und der Nacken tut mir auch weh.
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