Kafka am Strand
dort ertönt wie Bienengesumm das leise Brummen einer Maschine. Der Weg von der Haltestelle zur Bibliothek ist mit kleinen Wegweisern ausgeschildert, sodass ich ihn nicht verfehlen kann.
Vor dem imposanten Tor der Komura-Gedächtnisbibliothek stehen zwei hübsche Pflaumenbäume. Vom Tor folge ich einem gewundenen Kiesweg durch einen gepflegten, mit Bäumen bestandenen Garten, in dem nicht ein Blatt auf der Erde liegt. Kiefern, Magnolien, Ginster und Azaleen wachsen dort, und überall zwischen den Pflanzen stehen alte große Steinlaternen. Es gibt auch einen kleinen Teich. Schließlich gelange ich zum Eingang, der von erlesenem Geschmack zeugt. Einen Moment lang bleibe ich an der offenen Tür stehen, unentschlossen, ob ich eintreten soll. Diese Bibliothek unterscheidet sich von allen anderen, die ich kenne. Aber da ich nun einmal hier bin, wäre es dumm, nicht hineinzugehen. Gleich hinter dem Eingang befindet sich die Theke. Dort sitzt ein junger Mann, der das Gepäck in Verwahrung nimmt. Ich setze meinen Rucksack ab und entledige mich meiner Sonnenbrille und Mütze.
»Sie sind zum ersten Mal hier?«, fragt er mit ruhiger, gelassener Stimme. Er hat eine – wie soll ich sagen – hohe, aber doch weiche und nicht im Geringsten schrille Stimme.
Ich nicke, denn vor lauter Aufregung kann ich nicht sprechen. Auf diese Frage war ich nicht gefasst.
Einen gespitzten Bleistift zwischen den Fingern, mustert er kurz und interessiert mein Gesicht. Der gelbe Bleistift hat ein Radiergummi am einen Ende. Der junge Mann hat feine, regelmäßige Gesichtszüge. Schön wäre wahrscheinlich die treffendere Beschreibung für ihn als gut aussehend. Er trägt ein weißes durchgeknöpftes Baumwollhemd mit langen Ärmeln und olivgrüne Chinos, beides vollkommen faltenlos. Seine Haare sind ziemlich lang und fallen ihm in die Stirn, wenn er den Kopf neigt, sodass er sie sich immer wieder zurückstreicht. Seine bis zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmel geben den Blick auf schmale weiße Handgelenke frei. Die Brille mit dem dünnen, leichten Rahmen steht ihm ausgezeichnet. An seiner Brust ist ein kleines Plastikschild mit dem Namen Oshima befestigt. Er unterscheidet sich von allen Bibliotheksangestellten, die ich bisher kenne.
»Diese Bibliothek ist eine Freihandbibliothek. Die Bücher, die Sie lesen möchten, können Sie in den Lesesaal mitnehmen. Für wertvolle Bücher, die ein bestimmtes rotes Siegel tragen, müssen Sie eine Bestellkarte ausfüllen. Hier links im Archiv sind die Karteikästen und die Computerdatei, die Sie frei benutzen dürfen, wann immer Sie sie brauchen. Die Bücher können nicht ausgeliehen werden. Zeitschriften und Zeitungen haben wir nicht. Fotografieren sowie Kopieren ist nicht gestattet. Speisen und Getränke sind im Garten zu verzehren. Die Bibliothek schließt um fünf.«
Er legt den Bleistift auf den Tisch.
»Sind Sie Oberschüler?«, fügt er noch hinzu.
Ich hole einmal tief Luft und sage Ja.
»Unsere Bibliothek unterscheidet sich ein wenig von anderen«, sagt er. »Denn sie ist auf eine besondere Gattung von Büchern spezialisiert, nämlich auf die alten Werke von Tanka- und Haiku-Dichtern. Natürlich haben wir bis zu einem gewissen Grad auch Bücher zu allgemeinen Themen, aber die meisten unserer Leser, die von weiter weg mit dem Zug anreisen, sind auf der Suche nach Literatur zu diesem Thema. Niemand kommt hierher, um Stephen King zu lesen, und darum sind auch Besucher Ihres Alters höchst selten. Immerhin besuchen uns hin und wieder Doktoranden. Beschäftigen Sie sich mit Tanka oder Haiku?«
»Nein«, antworte ich.
»Das dachte ich mir schon.«
»Darf ich trotzdem reinkommen?«, frage ich schüchtern und bemühe mich sehr, meine Stimme nicht kippen zu lassen.
»Natürlich«, sagt er mit einem Lächeln und legt beide Hände auf den Tisch. »Immerhin sind wir eine Bibliothek, und jeder, der lesen möchte, ist willkommen. Ich darf es hier ja nicht so laut sagen, aber ich interessiere mich selbst nicht übermäßig für Tanka oder Haiku.«
»Ein beeindruckendes Gebäude«, sage ich.
Er nickt. »Die Familie Komura besaß schon in der Edo-Zeit eine große Sake-Brauerei, und der Letzte von ihnen war ein in ganz Japan bekannter Büchersammler. Was man so einen Büchernarren nennt. Sein Vater, also der vorletzte Komura, war selbst Dichter. Daher machten auch viele Literaten, wenn sie nach Shikoku kamen, hier Station – Wakayama Bokusui, Ishikawa Takuboku oder Shiga Naoya. Einige fühlten sich so wohl,
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