Kafka am Strand
lebt auf Ewigkeit in seiner eigenen Bibliothek.«
Ich starre auf den Bleistift in Oshimas Hand. Dabei überkommt mich eine entsetzliche Traurigkeit. Gleich werde ich wieder der stärkste Fünfzehnjährige der Welt sein müssen. Oder mir zumindest den Anschein geben. Ich hole einmal tief Atem, fülle meine Lunge mit Luft und unterdrücke mit Gewalt meine aufwallenden Gefühle.
»Darf ich irgendwann wieder hierher kommen?«, frage ich.
»Natürlich.« Oshima legt den Bleistift auf den Tisch zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schaut mir ins Gesicht. »Im Augenblick sieht es so aus, als würde ich die Bibliothek eine Zeit lang allein verwalten. Vielleicht werde ich Hilfe brauchen. Wenn du mit der Polizei und der Schule fertig bist, wenn du frei bist und Lust dazu hast, kannst du wieder herkommen. Vorläufig werden weder die Stadt noch ich irgendwo hinwandern. Jeder Mensch braucht einen Ort, an den er gehört. Mehr oder weniger.«
»Danke«, sage ich.
»Gern geschehen.«
»Dein Bruder will mir das Surfen beibringen.«
»Das freut mich. Es gibt nicht viele Menschen, die mein Bruder mag«, sagt Oshima. »Er ist ein ziemlich schwieriger Charakter.«
Ich nicke. Und muss lächeln. Wie ähnlich sich die beiden Geschwister doch sind.
»Weißt du, Kafka«, Oshima sieht mich an, »vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, ich habe dich eben zum ersten Mal lachen sehen.«
»Kann sein«, sage ich. Tatsächlich – ich lächle und werde rot.
»Wann fährst du nach Tokyo?«
»Ich glaube, jetzt gleich.«
»Kannst du nicht noch bis abends warten? Dann bringe ich dich, wenn ich die Bibliothek zugemacht habe, mit dem Wagen zum Bahnhof.«
Ich überlege kurz und schüttle den Kopf. »Danke, aber ich breche lieber gleich auf.«
Oshima nickt und holt das sorgfältig verpackte Bild aus einem der Zimmer. Dann steckt er noch die Platte mit dem Lied »Kafka am Strand« in eine Tüte und gibt sie mir.
»Das ist mein Geschenk.«
»Danke. Zum Schluss würde ich gern noch einmal Saeki-sans Büro im ersten Stock sehen, geht das?«
»Natürlich. Solange du willst.«
»Könnten Sie vielleicht mitkommen?«
»Klar.«
Wir gehen in den ersten Stock hinauf und betreten Saeki-sans Zimmer. Sacht fahre ich mit der Hand über ihren Schreibtisch. Und denke an all die Dinge, die er mit der Zeit absorbiert hat. In meinem Kopf entsteht das Bild, wie sie zum Schluss mit dem Gesicht darauf lag. Dann sehe ich vor mir, wie sie mit dem Rücken zum Fenster sitzt und schreibt. Wenn ich dann mit ihrem Kaffee durch die stets geöffnete Tür kam, hat sie aufgeschaut, mich angesehen und immer auf die gleiche Weise gelächelt.
»Woran hat Saeki-san eigentlich hier geschrieben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Oshima. »Ich kann nur sagen, dass all ihre Geheimnisse nun aus der Welt verschwunden sind.«
Und die Hypothesen, ergänze ich für mich.
Das Fenster steht offen, und die Junibrise wellt den Saum der weißen Spitzenvorhänge. Der leichte Geruch des Meeres liegt in der Luft. Mir fällt ein, wie sich der Sand an meinen Händen angefühlt hat. Ich wende mich vom Schreibtisch ab, gehe zu Oshima und umarme ihn fest. Sein schlanker Körper erweckt schreckliche Sehnsucht in mir. Er streichelt ruhig mein Haar.
»Die Welt ist eine Metapher, mein lieber Kafka«, sagt er mir ins Ohr. »Aber für dich und für mich ist diese Bibliothek nicht nur eine Metapher. Die Bibliothek bleibt für immer die Bibliothek. Das möchte ich zwischen uns einmal klarstellen.«
»Natürlich.«
»Sie ist eine sehr solide, individuelle, besondere Bibliothek. Und durch nichts anderes zu ersetzen.«
Ich nicke.
»Auf Wiedersehen, Kafka Tamura«, sagt Oshima.
»Auf Wiedersehen«, sage ich. »Ihre Krawatte ist sehr elegant.«
Er löst sich von mir, sieht mir mit einem Lächeln gerade ins Gesicht. »Die ganze Zeit habe ich darauf gewartet, dass du das sagst.«
Meinen Rucksack auf dem Rücken, gehe ich zur Haltestelle, steige in die Tram und fahre zum Bahnhof. Am Schalter kaufe ich mir eine Fahrkarte nach Tokyo. Mein Zug wird spätabends in Tokyo ankommen. Vorerst werde ich irgendwo anders übernachten und dann vielleicht in das Haus in Nogata zurückkehren, in das große leere Haus, wo niemand ist und wo ich wieder allein sein werde. Niemand wartet auf mich. Aber ich habe keinen anderen Ort, an den ich gehen kann.
Von einem Fernsprecher am Bahnhof aus rufe ich Sakuras Handynummer an. Sie ist mitten bei der Arbeit. Aber sie könne kurz sprechen, sagt sie.
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