Kafka am Strand
bezeichnen kann. Vielleicht hat Wasser sie ausgehöhlt, das Gras weggewaschen, die Wurzeln der Bäume freigelegt und ist um größere Felsen einfach herumgeflossen. Als dann der Regen aufhörte und das Wasser sich zurückzog, ist ein trockenes Bachbett entstanden und damit ein Weg, dem ein Mensch folgen kann. An vielen Stellen ist dieser »Weg« von Farnen und Gräsern überwuchert. Wenn ich nicht Acht gebe, verliere ich ihn sofort aus den Augen. Hin und wieder wird es steil, sodass ich mich an den Wurzeln der Bäume festhalten und klettern muss.
Bald gebe ich es auf, John Coltranes Sopransax-Solo zu pfeifen. Nun ertönt ein Klaviersolo von MacCoy Tyner in meinen Ohren. Die linke Hand spielt einen tickenden, monotonen Rhythmus, die rechte eine Serie dichter, dunkler Akkorde. Das Stück scheint eine mythische Szene zu beschreiben, in der die dunkle Vergangenheit eines namen- und gesichtslosen Jemand wie Eingeweide in allen Einzelheiten aus dem Dämmer gezerrt wird. So klingt es jedenfalls für meine Ohren. Durch die andauernde Wiederholung wird die Realität Stück für Stück zerpflückt und dann wieder zusammengesetzt. Das Stück sondert einen leicht hypnotischen Hauch von Gefahr ab. Es gleicht – dem Wald.
Indem ich mit der Sprayfarbe in meiner linken Hand kleine Zeichen auf die Baumstämme sprühe, arbeite ich mich voran. Hin und wieder drehe ich mich um und prüfe, ob die gelben Markierungen auch gut sichtbar sind. In Ordnung. Die Zeichen, die mir den Rückweg zeigen sollen, setzen sich schwankend wie Bojen auf dem Meer fort. Zur Sicherheit hacke ich ab und zu noch mit dem Beil eine Kerbe in die Baumstämme. Ich mache meine Zeichen in verschiedene Bäume. An einigen greift mein kleines Beil nicht. Sind die Stämme weich und nicht allzu dick, schlage ich ihnen frische Wunden. Schweigend nehmen sie meine Schläge hin.
Wie Kundschafter umschwirren mich zuweilen große schwarze Moskitos und versuchen, mich in die freiliegenden Partien um die Augen zu stechen. Ihr Sirren dringt in meine Ohren. Ich verjage sie mit der Hand oder schlage sie mit lautem Klatschen tot. Einige haben mich schon gestochen und sind voll Blut. Die Stelle juckt. Das Blut an meiner Hand wische ich mit dem Handtuch ab, das ich um den Hals trage.
Damals wurden die Soldaten bei ihrem Marsch durch den Wald bestimmt auch von den Mücken geplagt, zumindest falls es Sommer war. Wie schwer wohl eine »vollständige Kampfausrüstung« war? Ein altmodisches Gewehr wie ein Batzen Eisen, dann eine Menge Munition, ein Bajonett, ein eiserner Helm, natürlich Proviant und Wasser, ein paar Handgranaten, eine Schaufel zum Ausheben von Schützengräben, Essgeschirr … das waren bestimmt über zwanzig Kilo. Jedenfalls muss es furchtbar schwer gewesen sein. Im Gegensatz zu meinem Nylonrucksack. Meine Fantasie geht mit mir durch, und ich bilde mir ein, dass ich gleich hinter dem nächsten Gebüsch auf diese Soldaten stoßen werde. Aber ihr Verschwinden liegt ja über sechzig Jahre zurück.
Mir fällt Napoleons Russischer Feldzug ein, über den ich auf der Veranda der Hütte gelesen habe. Die französischen Soldaten, die im Sommer 1812 den langen Weg bis Moskau marschiert waren, wurden gewiss auch von Moskitos gequält. Natürlich nicht nur von Stechmücken. Sie mussten ihr Leben gegen so viele Widrigkeiten verteidigen. Es gab Hunger und Durst, schlammige, schlechte Wege, ansteckende Krankheiten, große Hitze, Partisaneneinheiten der Kosaken, die die langen Nachschublinien angriffen, Mangel an Arznei und natürlich ständig schwere Gefechte gegen die regulären russischen Truppen. Die Zahl der Soldaten, die am Ende das fast menschenleere Moskau einnahmen – die Einwohner waren geflohen –, hatte sich dramatisch von 50000 auf 10000 verringert. Ich bleibe stehen und befeuchte mir die Kehle aus meiner Wasserflasche. Meine Armbanduhr zeigt genau elf. Die Stunde, um die die Bibliothek öffnet. Ich stelle mir vor, wie Oshima das Tor öffnet und sich hinter die Theke setzt, auf der wie immer ein langer, gespitzter Bleistift liegt. Hin und wieder dreht er ihn in der Hand. Tippt sich mit dem Radiergummi leicht an die Schläfe. Diese Szene steht mir ganz real vor Augen, obwohl sie sich in so weiter Ferne zuträgt.
ICH HABE KEINE PERIODE. MEINE BRUSTWARZEN SIND UNEMPFINDLICH, MEINE klitoris nicht. geschlechtsverkehr habe ICH NICHT ÜBER DIE VAGINA, SONDERN ÜBER DEN ANUS.
Ich erinnere mich, wie Oshima mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett in der Hütte
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