Kafka am Strand
Augenblicke über den Raum. Nakata brach als Erster das Schweigen. Er räusperte sich.
»Saeki-san.«
»Was ist?«
»Kennen Sie den Eingangsstein?«
»Ja, ich kenne ihn«, sagte sie. Ihre Finger berührten den Montblanc-Füllhalter auf dem Schreibtisch. »Vor langer Zeit bin ich irgendwo auf ihn gestoßen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich hätte nichts davon erfahren. Aber das konnte ich mir nicht aussuchen.«
»Nakata hat den Eingang vor ein paar Tagen noch einmal geöffnet. An dem Nachmittag, als es so gedonnert hat. Viele Gewitter sind über die Stadt gezogen. Herr Hoshino hat geholfen. Nakata konnte das nicht allein. Wissen Sie, wann der Tag mit den Gewittern war?«
Frau Saeki nickte. »Ich erinnere mich.«
»Nakata hat ihn geöffnet, weil er ihn öffnen musste.«
»Ich verstehe. Um verschiedene Dinge wieder so einzurichten, wie sie sein sollten. «
Nakata nickte. »Genau.«
»Sie besitzen diese Fähigkeit.«
»Nakata weiß nicht genau, was Fähigkeit ist. Aber er hatte keine andere Wahl. Nakata hat in Nakano einen Menschen getötet, weil Johnnie Walker ihn dazu gebracht hat. Nakata musste diese Aufgabe für einen fünfzehnjährigen Jungen übernehmen.«
Frau Saeki schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah Nakata an. »Vielleicht sind all diese Dinge nur passiert, weil ich vor langer Zeit den Eingang geöffnet habe. Ob das die Nachwirkungen sind, die immer noch hier und da Verzerrungen hervorbringen?«
Nakata schüttelte den Kopf. »Saeki-san?«
»Ja«, sagte sie.
»Damit kennt Nakata sich nicht aus. Nakatas Aufgabe ist nur, hier und jetzt die Dinge so einzurenken, dass sie wieder die Form haben, die sie haben sollen. Deswegen ist Nakata aus Nakano fortgegangen, hat die große Brücke überquert und ist nach Shikoku gekommen. Sie wissen sicher, Frau Saeki, dass Sie nicht hier bleiben können?«
Frau Saeki lächelte. »Gut«, sagte sie. »Das ist es, was ich so lange gesucht habe, Herr Nakata. In der Vergangenheit habe ich danach gesucht und in der Gegenwart, aber nie bekam ich es zu fassen. Ich musste geduldig abwarten, bis die Zeit dazu gekommen war -jetzt endlich gekommen ist. Oft war das kaum zu ertragen. Aber natürlich bin ich mitverantwortlich für die schmerzhaften Dinge, die mir widerfahren sind.«
»Saeki-san«, sagte Nakata. »Nakata hat nur einen halben Schatten. Wie Sie.«
»Ja.«
»Nakata hat seinen im letzten Krieg verloren. Wieso das passiert ist und warum es ausgerechnet Nakata getroffen hat, weiß er nicht. Auf alle Fälle ist seitdem viel Zeit vergangen, und wir müssen allmählich hier weg.«
»Ich verstehe.«
»Nakata hat lange gelebt, aber er hat, wie gesagt, keine Erinnerungen. Deswegen kennt er die ›schmerzhaften‹ Gefühle nicht, von denen Sie gesprochen haben. Aber sicher möchten Sie diese Erinnerungen, auch wenn sie schmerzhaft sind, nicht aufgeben?«
»Nein«, sagte Frau Saeki. »Genau, ich glaube nicht, dass ich sie aufgeben will, solange ich lebe, so schmerzhaft sie auch sein mögen. Sie sind der einzige Beweis dafür, dass ich gelebt habe.«
Schweigend nickte Nakata.
»Dadurch, dass ich länger gelebt habe, als nötig war, habe ich vielen Menschen Schaden zugefügt«, fuhr sie fort. »Ich hatte sexuelle Beziehungen zu dem fünfzehnjährigen Jungen, den Sie erwähnt haben. Gerade vor kurzem. In diesem Zimmer bin ich wieder zu einem fünfzehnjährigen Mädchen geworden und habe mit ihm geschlafen. Ich konnte einfach nicht anders – ob es nun richtig war oder falsch. Vielleicht habe ich dadurch nur neuen Schaden angerichtet. Das wäre das Einzige, was mir leid täte.«
»Nakata kennt sich mit Sex nicht aus«, sagte Nakata. »Er hat keine Erinnerungen und keine Sexualität. Also kennt er auch nicht den Unterschied zwischen richtigem und falschem Sex. Aber was passiert ist, ist eben passiert. Richtig oder falsch, es ist sowieso nicht mehr zu ändern. Das ist Nakatas Standpunkt.«
»Herr Nakata?«
»Jawohl.«
»Ich habe eine Bitte an Sie.«
Frau Saeki nahm aus der Handtasche, die zu ihren Füßen stand, einen kleinen Schlüssel und öffnete die Schreibtischschublade. Sie zog einige dicke Ordner hervor und legte sie auf den Tisch. »Seit ich wieder hier in der Stadt bin, habe ich an diesem Manuskript geschrieben. Es ist die Geschichte meines Lebens. Ich bin ganz hier in der Nähe geboren und habe den Jungen, der damals in diesem Haus lebte, zutiefst geliebt. Tiefer kann man nicht lieben. Und er liebte mich auf die gleiche Weise wider. Wir
Weitere Kostenlose Bücher