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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ratlos. Es gibt keine Richtung mehr, weder Himmel noch Erde. Ich denke an Saeki-san, an Sakura, an Oshima. Aber ich bin Lichtjahre von ihnen entfernt. Soweit ich meine Arme auch ausstrecke, ich kann sie nicht berühren. Es ist, als ob ich von der verkehrten Seite durch ein Fernglas sähe. Ich bin allein im Halbdunkel eines Labyrinths. Auf den Wind soll ich lauschen, hat Oshima gesagt. Ich lausche. Aber es weht kein Wind. Krähe ist verschwunden.
    Gebrauch deinen Kopf und denk nach. Überleg, was du tun musst.
    Aber ich kann nicht nachdenken. Jeder Gedanke führt mich letztlich nur in eine Sackgasse des Labyrinths. Aber was ist überhaupt mein Inneres? Kann es der Leere widerstehen?
    Ich denke ernsthaft daran, meine Existenz hier und jetzt auszulöschen. Innerhalb der dicken Mauern dieses Waldes, auf diesem Weg, der keiner ist, aufzuhören zu atmen, mein Bewusstsein stumm in der Dunkelheit zu begraben, das dunkle Blut, in dem die Gewalt fließt, bis zum letzten Tropfen aus mir herausströmen und alle meine Gene im Gras verrotten zu lassen. Wäre damit mein Kampf nicht zum ersten Mal beendet? Würde ich andernfalls nicht für alle Ewigkeit meinen Vater töten, meine Mutter und Schwester schänden und unaufhörlich weiter die Welt besudeln? Ich schließe die Augen und richte meinen Blick auf mein Inneres. Die Dunkelheit, die es verschleiert, ist ungleichmäßig und körnig. Sie flirrt wie tausend kleine Messer und wie die Blätter des Hartriegels, wenn die dunklen Wolken aufreißen und der Mond darauf scheint.
    Auf einmal ist mir, als verschiebe sich unter meiner Haut etwas. Ein Klick ertönt in meinem Kopf. Ich öffne die Augen und hole tief Luft. Und lasse die Spraydose zu Boden fallen. Das Messer werfe ich weg und den Kompass auch. Die Geräusche ihres Aufpralls klingen sehr weit entfernt. Ich fühle mich nun ganz leicht. Ich streife den Rucksack ab und lasse auch ihn zu Boden fallen. Mein Tastsinn wird feiner als zuvor, die Luft um mich herum transparenter, die Atmosphäre des Waldes dichter. In meinen Ohren spielt John Coltrane unentwegt sein labyrinthisches Solo. Es ist endlos.
    Dann überlege ich es mir anders und nehme doch das scharfe Jagdmesser aus dem Schreibtisch meines Vaters aus dem Rucksack und stecke es ein. Notfalls kann ich mir damit die Pulsadern aufschneiden, mein Blut in der Erde versickern lassen und den Mechanismus auf diese Weise zerstören.
    Ich betrete das Innerste des Waldes. Ich bin ein hohler Mann. Ich bin die Leere, die die Substanz verschlungen hat. Darum brauche ich mich nicht mehr zu fürchten. Vor gar nichts.
     
    UND ICH BETRETE DAS INNERSTE DES WALDES.

42
    Als sie allein waren, bot Frau Saeki Nakata einen Stuhl an. Nach kurzem Zögern nahm er Platz, und sie sahen einander eine Weile wortlos über den Schreibtisch hinweg an. Nakata legte seine Mütze auf seine geschlossenen Knie und strich sich wie immer mit der flachen Hand über sein kurzes Haar. Frau Saeki legte beide Hände auf den Tisch und sah ihn ruhig an.
    »Wenn ich mich nicht irre, habe ich auf Sie gewartet.«
    »Jawohl. Nakata glaubt das auch«, sagte Nakata. »Aber es hat lange gedauert. Ist Ihnen das Warten nicht lang geworden? Nakata hat sich beeilt, so gut er konnte, schneller ging es nicht.«
    Frau Saeki schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Wären Sie früher gekommen, oder auch später, hätte mich das sicher mehr verwirrt. Für mich ist jetzt genau der richtige Augenblick.«
    »Wenn Herr Hoshino nicht die ganze Zeit so freundlich gewesen wäre, hätte Nakata bestimmt noch viel länger gebraucht. Weil Nakata doch nicht lesen kann.«
    »Herr Hoshino ist Ihr Freund, nicht wahr?«
    »Jawohl.« Nakata nickte. »Das kann sein. Aber ehrlich gesagt, Nakata kennt sich mit so was nicht richtig aus. Außer ein paar Katzen hat Nakata noch nie einen Freund gehabt.«
    »Ich habe auch schon seit langem keine Freunde«, sagte Frau Saeki.
    »Außer meinen Erinnerungen.«
    »Saeki-san?«
    »Ja?«
    »Ehrlich gesagt, Nakata hat auch keine Erinnerungen. Weil er dumm ist. Was sind eigentlich Erinnerungen?«
    Frau Saeki betrachtete ihre Hände auf dem Tisch und sah dann wieder Nakata an. »Erinnerungen sind das, was Ihren Körper von innen wärmt. Zugleich können Erinnerungen Sie innerlich auch in Stücke reißen.«
    Nakata schüttelte den Kopf. »Sehr schwierig. Erinnerungen versteht Nakata noch nicht. Nur die Gegenwart.«
    »Bei mir scheint es umgekehrt zu sein«, sagte Frau Saeki.
    Tiefes Schweigen senkte sich für einige

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