Kafka am Strand
geschlafen hat, und an seine/ihre Präsenz, die dort zurückgeblieben ist. Ich habe im selben Bett geschlafen, um mich von dieser Präsenz einhüllen zu lassen. Ich muss aufhören, über diese Dinge nachzudenken.
Stattdessen denke ich über den Krieg nach. Über die Napoleonischen Kriege und die Kriege, in denen japanische Soldaten kämpfen mussten. Ich spüre das Gewicht des Beils in den Händen. Seine frisch geschärfte helle Klinge blinkt. Unwillkürlich wende ich den Blick ab. Warum kämpfen die Menschen? Warum tun sich Hunderttausende, Millionen von Menschen zusammen, um sich gegenseitig abzuschlachten? Ist es Zorn, der zu diesen Kämpfen führt, oder Angst? Oder sind Zorn und Angst bloß zwei Seiten der gleichen Idee?
Ich schlage das Beil in die Bäume. Unhörbar schreien sie auf, unsichtbares Blut fließt. Ich wandere weiter. John Coltrane nimmt sein Saxophonsolo wieder auf. Die Wiederholung zerpflückt die Realität und fügt sie neu zusammen.
Unversehens kehrt mein Geist in das Reich meines Traums zurück. Es geschieht ganz ruhig. Ich umschlinge Sakura. Sie ist in meinen Armen, und ich dringe in sie ein.
Ich will nicht der Spielball von anderen sein. Will mich nicht verwirren lassen. Meinen Vater habe ich schon getötet. Und meine Mutter geschändet. Jetzt bin ich in meiner Schwester. Wenn es einen Fluch gibt, sollte ich ihm Folge leisten und ihn willig annehmen. Und alles schnell hinter mich bringen. Diese Last so rasch es geht von meinen Schultern werfen, um danach endlich mein eigenes Leben zu leben, ohne in jemandes Absichten verstrickt zu sein. Das ist es, was ich mir wünsche. Und ich ejakuliere in ihr.
»Auch im Traum solltest du so was nicht tun«, sagt Krähe zu mir.
Er ist direkt hinter mir. Er ist mit mir in den Wald gekommen.
»Ich habe damals ernsthaft versucht, dich aufzuhalten. Du hast das bestimmt gemerkt. Du hast doch meine Stimme gehört. Aber du hast nicht auf mich gehört, sondern einfach weitergemacht.«
Ich gebe keine Antwort, drehe mich auch nicht um, sondern gehe einfach schweigend weiter.
»Du hast gedacht, du könntest dadurch den Fluch, der dir anhaftet, überwinden. Nicht wahr? Aber das hat sich nicht bewahrheitet, oder?«, fragt Krähe mich.
ABER das hat sich nicht bewahrheitet, oder? Du HAST deinen vater getötet und deine mutter und deine schwester geschändet. du hast die weissagung erfüllt. du hattest die absicht, den fluch, den dein vater über dich verhängt hat, zu beenden. aber in wirklichkeit ist überhaupt nichts beendet. du hast nichts überwunden. der fluch lodert heller als zuvor in dir. das weisst du genau. deine gene sind immer noch von diesem fluch erfüllt. dein atem trägt ihn in alle vier winde über die ganze welt. das finstere chaos in dir bleibt. stimmt’s? weder deine angst, noch dein zorn, noch deine unsicherheit sind verflogen. sie sind weiter in dir und quälen dich unablässig.
»Also gut, der Kampf, der diesen Kampf beenden kann, ist nicht irgendwo«, sagt Krähe. »Der Kampf wächst in dir selbst heran. Er schlürft Blut, das gewaltsam vergossen wurde, und er frisst das Fleisch, dem Gewalt angetan wurde. Davon nährt er sich. Der Kampf ist gleichsam ein vollkommenes Lebewesen. Das musst du wissen.«
Schwester, sage ich.
Ich hätte Sakura nicht vergewaltigen dürfen. Auch wenn es im Traum geschehen ist.
»Was soll ich tun?«, frage ich, den Blick auf die Erde vor mir gerichtet.
»Vielleicht musst du die Angst und die Wut in dir überwinden«, sagt Krähe. »Mit einem hellen Licht in dein Herz hineinleuchten und das Eis zum Schmelzen bringen. Das wird wirklich hart. Aber wenn dir das gelingt, bist du zum ersten Mal der stärkste Fünfzehnjährige auf der Welt. Du verstehst doch, was ich sage? Es ist immer noch nicht zu spät. Du kannst auch jetzt dein Ich noch zurückgewinnen. Gebrauche deinen Kopf und denk nach. Denk nach, was zu tun ist. Du bist doch kein Dummkopf. Du kannst denken.«
»Habe ich meinen Vater wirklich getötet?«, frage ich.
Es kommt keine Antwort. Ich drehe mich um. Krähe ist nicht mehr da. Meine Frage geht in der Stille unter.
Ganz allein in einem tiefen Wald fühlt man sich schrecklich leer. Ich habe das Gefühl, plötzlich zu einem »hohlen« Menschen geworden zu sein, wie Oshima es nennt. In mir herrscht eine große Leere, die zusehends anschwillt und allmählich alles frisst, was noch in mir ist. Ich kann ihre Geräusche hören. Meine Existenz wird mir immer unbegreiflicher. Ich bin völlig
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