Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
aufdecken, um zu heilen. Sie kannte solche Sätze nicht und blieb befangen im Horizont eines positiven Sprechens, in dem das Negative immer nur in Gestalt von Auslassungen und Verleugnungen vorkommt. Es wird schon wieder werden. Kafka wiederum blieb befangen in einer negativen Selbstdeutung, die er durch literarische Metaphern ausdifferenziert und damit zugleich immunisiert hatte. Hier war kein Durchdringen, weder von außen noch von innen. Es war zum Verrücktwerden .
Mit einem energischen Handschlag hatten sie sich verabredet, damals, als es noch Spiel war. Jetzt streckte Felice ihre Hand nur zögernd aus, und Kafka sah eine Hand, aber schärfer noch ein Zögern. So versäumten beide die Peripetie: den Augenblick, der niemals wiederkehrt.
{250} Balkankrieg: Das Massaker nebenan
Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker auf einander schlagen.
Das bekannte Credo des deutschen Spießers aus Goethes FAUST. Mehr als ein Jahrhundert war seither vergangen, und wieder schlugen in der Türkei nicht Armeen, sondern, im wahrsten Sinne, Völker aufeinander ein. Doch diesmal nicht »hinten, weit«, sondern gleich nebenan.
Ein paar Tage lang herrschte allgemeine Erheiterung über die montenegrinischen ›Hammeldiebe‹, die allen Ernstes das riesige Osmanische Reich herausforderten, und in den außenpolitischen Schaltstellen in Wien und Berlin hob sich allenfalls eine Augenbraue. Doch dann, Mitte Oktober, änderte sich das Bild, und vom Balkan trafen Schlagzeilen ein, die den Atem stocken ließen. Die türkische Armee auf der Flucht. Ungeheure Verluste. Massaker an der Zivilbevölkerung. Unsagbare Gräuel. Die Cholera in Konstantinopel. Und es gingen Fotos um die Welt von gestapelten Leichen auf Pferdekarren und von zerlumpten Gestalten, die sich gen Osten schleppten.
Was war geschehen? Kaum mehr als eine Woche dauerten die Gefechte, da verlautbarte auch in Serbien, Bulgarien und Griechenland, es sei nun an der Zeit, die Türken endgültig vom europäischen Festland zu vertreiben und die Angehörigen der jeweils eigenen Nationalität von der Herrschaft des Halbmondes zu befreien. Dies und nichts anderes war schließlich der Zweck des Balkanbundes, der erst im Frühjahr unter russischer Patronage zustande gekommen war. Und der Augenblick war günstig, die jungtürkische Führung offenbar desolat, {251} ihre Armee nach einem verlorenen Krieg gegen Italien in miserablem Zustand, die Bevölkerung der türkischen Balkangebiete – und keineswegs nur die christliche – der autokratischen Cliquenwirtschaft überdrüssig. Drei Kriegserklärungen wurden am 17.Oktober 1912 überreicht, die Hatz war eröffnet.
Es ging um nichts weniger als um eine völlige Neuverteilung des Balkans. Ein Eroberungskrieg also, und allein die Tatsache, dass jeder der beteiligten Staaten darauf rechnen konnte, besetztes Gebiet nicht nur ›verwalten‹, sondern auf Dauer dem eigenen Territorium zuschlagen zu können, verlieh dem konzentrierten Angriff eine ungeheure Wucht. Wo die Aggressoren gegeneinander konkurrierten, wollte jeder der Erste sein, man hatte nicht einmal Zeit, sich um die eigenen Verletzten zu kümmern, geschweige denn um die türkischen Gefangenen, die man abschlachtete oder verhungern ließ. Solange sich die Front – und damit die künftige Staatsgrenze – in die richtige Richtung bewegte, galten Menschenleben nichts. Das Volk würde nachwachsen, der ›Lebensraum‹ nicht. Und dieses ebenso erbarmungslose wie selbstmörderische Kalkül spiegelte sich unmittelbar in den Zahlen der Getöteten: Während in der türkischen Westarmee, die binnen weniger Wochen bis nahe an den Bosporus zurückgetrieben wurde, etwa 100 000 Soldaten umkamen, waren es auf Seiten der siegreichen Angreifer insgesamt fast 130 000 – jeder Sechste.
Mit dem Schlagwort vom ›Schlachthaus Balkan‹ waren die westlichen Blätter schnell bei der Hand. Dies, so hieß es, sei kein Krieg nach den Maßstäben zivilisierter Gesellschaften, sondern ein Rückfall in die Steinzeit. Sicher, die Humanitätsduselei und die Sonntagsreden der Pazifisten, die man erst einen Monat zuvor wieder beim ›19. Weltfriedenskongress‹ in Genf hatte hören müssen, waren weltfremd und überdies feige. Der Krieg an sich war unvermeidbar, und wer das bedauerte, der wusste eben nichts von der erzieherischen Wirkung des Kampfes. Aber es war doch wohl ein Unterschied zwischen einem
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