Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
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Der Zug war in Bewegung. Kafka versuchte noch, das Tempo zu drosseln – sie habe noch längst nicht alles gründlich durchdacht, solle doch ausführlicher und »haargenau« auf seine Bedenken eingehen –, aber er hatte Realitäten geschaffen, die stärker waren als alle Imagination. Am 1.Juli erkannte er sie an:
»Es gab nur dreierlei Antworten: ›Es ist unmöglich und ich will deshalb nicht‹ oder ›Es ist unmöglich und ich will deshalb vorläufig nicht‹ oder ›Es ist unmöglich, aber ich will doch.‹ Ich nehme Deinen Brief als Antwort im Sinne der dritten Antwort ( dass es sich nicht genau deckt, macht mir Sorge genug ) und nehme Dich als meine liebe Braut. Und gleich darauf (es will sich nicht halten lassen) aber womöglich zum letztenmal sage ich, dass ich eine unsinnige Angst vor unserer Zukunft habe und vor dem Unglück, das sich durch meine Natur und Schuld aus unserem Zusammenleben entwickeln kann und das zuerst und vollständig Dich treffen muss, denn ich bin im Grunde ein kalter eigennütziger und gefühlloser Mensch trotz aller Schwäche, die das mehr verdeckt als mildert.«
Nein, zum letzten Mal hörte Felice dies nicht. An was sollte sie sich nun halten? Kafka war erregt, noch immer sprach er von Unmöglichkeiten. Doch das gelebte Leben würde ihn widerlegen, und er würde sich beruhigen. Sie war seine Braut.
Kafka aber ging an diesem Abend ins Kino. Er sah sich die Wochenschau an, dann drei Kurzfilme, den üblichen Klamauk. Besonders lustig: ›Nur einen Beamten zum Schwiegersohn‹. Man darf annehmen, dass er mitlachte. Zu Hause dann nahm er noch einmal das Tagebuch vor. »Der Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit«, schrieb er. [310]
Was die Sozial- und Politikwissenschaft als ›normative Kraft des Faktischen‹ seit langem beschäftigt, hat Wurzeln im Psychischen, deren Tiefe noch längst nicht ausgelotet ist. Eine Pflicht erfüllt zu haben beruhigt, und die Erfüllung will nichts wissen vom Was und Warum. Sozialer Druck, äußere Widerstände, Sachzwänge, ja selbst materielle Not wecken eine stumpfe, allem Zweifel und aller Reflexion massiv entgegenwirkende psychische Energie, der gern sich anvertraut, wer nicht mehr nachdenken will . Das ›Gegebene‹, und sei es noch so trostlos, ist von geheimer, schäbiger Attraktivität, weil es von Verantwortung entbindet, von der Last der Freiheit und der Erinnerung; man kennt das aus Nachkriegszeiten. Aber auch die forcierte Umtriebigkeit, mit der etwa Hochzeiten – und gerade die fragwürdigsten – bis in die letzten Einzelheiten besprochen und organisiert werden, offenbart dieses Moment der Abwehr häufig schon dem flüchtigsten Blick. Als käme alles darauf an, den feinen, doch Unheil verheißenden Spalt zwischen dem, was zu tun ist, und dem, was als Nächstes zu tun ist, vollends und endgültig zu schließen.
Vielleicht vertraute auch Felice Bauer darauf, dass Kafka nun etwas zu tun bekäme. Offene Entscheidungen verleiten dazu, in grellen Farben sich auszumalen, was kommt; Entscheidungen hingegen, die {348} schon getroffen sind, zwingen zum Handeln. Das wusste natürlich Kafka, und den fürchterlichen Hürdenlauf, der ihm jetzt bevorstand, hatte er wohl schon oft genug antizipiert – dafür sorgten nicht zuletzt seine ›Curatoren‹ Brod und Weltsch. Auch hier aber gilt es, sehr genau hinzuhören: Allzu leicht vermitteln ja Kafkas Briefe den Eindruck, die buchstäblich bis in den Schlaf ihn verfolgenden selbstquälerischen Phantasien und Zweifel hätten ihn sozial paralysiert und er habe zur Ehe überhaupt kein praktisches Verhältnis gefunden. Man traut ihm schlechtweg nicht mehr zu, dass er etwas in Bewegung setzt. Doch dieser Eindruck täuscht: Nur selten sprach Kafka über das, was ohnehin von ihm erwartet wurde – das war ja die Art von Trotz, die er auch gegenüber dem Büro zeigte –, aber er tat es dann dennoch. So begann er, kaum war Felices Jawort eingetroffen, in Prag ein geeignetes Domizil zu suchen; ohne lange Überlegung wurde er Mitglied einer Baugenossenschaft und nahm auch sogleich sein Recht wahr, sich eine Wohnung zu reservieren – die allerdings erst im kommenden Jahr bezugsfertig sein sollte. Felices Überraschung dürfte nicht geringer gewesen sein als die unsre.
Ungleich schwieriger war allerdings der nächste Schritt: Man musste es den Eltern beibringen, und dafür galt es, eine Form zu finden, die einerseits feierlich genug war, andererseits aber die Peinlichkeit einer ausdrücklichen
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