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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Mutter bestand auf ihrer Bitte. Ich weiss nicht genau warum, vielleicht aus meinem ständigen Schuldbewusstsein gegenüber meinen Eltern gab ich nach und schrieb der Mutter den Namen Deines Vaters auf. Es kam mir ein wenig lächerlich vor, wenn ich daran dachte, dass Deine Eltern, wenn sie ähnliche Wünsche haben sollten, nur gute Auskunft über uns bekämen und dass kein Auskunftsbureau imstande wäre, die Wahrheit über mich zu sagen.« [311]  
    Das unruhige Gewissen ist unüberhörbar; euphemistisch mindert er das energische Eingreifen der Eltern zur »Bitte« herab. Doch er hatte nachgegeben, das ließ sich nicht leugnen; und gedankenlos, weltfremd war er gewesen, denn er hatte – wieder einmal – vergessen, dass man nicht heiraten kann, ohne ›einzuheiraten‹. An nichts anderes aber dachte der Vater, erst recht nach den Erfahrungen mit Elli und Valli, deren Haushalte noch immer nicht ohne Zuschüsse der Alten auskamen. Und auch Franz hatte ja keinerlei Sinn für Geld, ihm war es zuzutrauen, jenen Bleigewichten noch ein weiteres hinzuzufügen. Jüdische Kleinbürger aus Schlesien: Womöglich waren das Leute, die einem auf der Tasche lagen. Oder deren Name auf den eigenen abfärbte. Nein, das wollte man nun schon genauer wissen.
    Derartige Nachforschungen, bei denen es einerseits um Geld, andererseits natürlich auch um den sexuellen Leumund heiratsfähiger Frauen ging, wurden noch bis in die Kriegsjahre gleichsam routinemäßig betrieben. Niemand ließ sie gern über sich ergehen, aber da sie nun einmal zum außenpolitischen Frühwarnsystem der bürgerlichen Ehe gehörten und ebenso wenig ›persönlich gemeint‹ waren wie etwa heutzutage die Forderung nach einem Führungszeugnis, gab es keinen {351} Anlass, beleidigt zu sein. Entsprechend lax war das Auftreten der Detektive und Heiratsvermittler, deren Geschäft ehrenwert war und das Tageslicht nicht zu scheuen brauchte. Denn letztlich unterstrichen ja solche Erkundigungen den Ernst der Bewerbung. All das wusste Kafka, und die entsprechenden Prozeduren waren ihm von den ›Eheanbahnungen‹ der Schwestern in nur allzu guter Erinnerung. Man machte das so, weil es alle so machten. Doch Felice, die Bürgerliche, war nun keineswegs bereit, dies ebenso leicht abzutun. Sie war gekränkt. Tagelang blieb sie stumm. Dann kam ein Brief, in dem von der ›Banalität des Lebens‹ die Rede war.
    Kafka war bestürzt. Bestürzt? Jeden anderen Bräutigam hätte Misstrauen beschlichen. War denn nicht gerade Berlin das Eldorado der Vermittler, war nicht in Berlin der Heiratsmarkt rationell und ökonomisch geregelt wie nirgends sonst? Und das musste er auch sein, denn es ging um ungeheuerliche Summen, die verlangt und gezahlt wurden. Ein mittlerer Beamter in vergleichbarer Position (der freilich in Berlin deutlich mehr verdiente als Kafka) durfte dort bis zu 30 000 Mark Mitgift erwarten – da wollte man doch wissen, mit wem man es zu tun hatte. Natürlich, Kafka interessierte das nicht, kein einziges Mal während der Zeit der Werbung nahm er das scheußliche Wort ›Mitgift‹ in den Mund; aber wie es unter Berliner Juden zuging, das wusste er, und dass Felices Vater als Reisender wahrscheinlich nicht einmal 2000 Mark im Jahr verdiente und die Bauers ihren bescheidenen Wohlstand vor allem den arbeitenden Töchtern verdankten, war ihm seit langem klar. Leichtes Spiel für Hermann, der seinem Sohn wortreich das unvermeidliche Debakel ausmalte – freilich ohne ein ausdrückliches ›Nein‹.
    Felice aber hütete noch andere Geheimnisse, deren dunkelstes der Fehltritt Ernas war. Nun, zur Schwester und ihrem unehelichen Kind würde wohl kein Auskunftsbüro vordringen, dafür hatte sie gesorgt. Dass aber der Vater die gemeinsame Wohnung verlassen und jahrelang mit einer anderen Frau gelebt hatte, war ein nicht zu tilgendes Minus in der sozialen Akte, hatte doch dieser Skandal die Familie in die öffentliche Schande der ›Kreditunwürdigkeit‹ gestürzt. Wie sollte man den Kafkas in die Augen sehen, wenn sie diese Geschichte nun von dritter Seite erfuhren? Und was würde Franz dazu sagen, von dem Felice seit nun beinahe einem Jahr Offenheit forderte und auch erfuhr?
    Kafka wusste die Signale nicht zu deuten, ja, er verstand gar nicht, was denn all diese Bedenklichkeiten und Präliminarien mit dem, was ihn umtrieb, letzten Endes zu tun haben sollten. Oder besser: Er weigerte sich, es zu verstehen. Denn die Naivität reiner Innerlichkeit, auf die er sich jetzt zurückzog und

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