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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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nervös; konnte {345} er denn nicht endlich sagen, worauf das hinaussollte? »Lassen wir das!«, schrieb sie ungeduldig. Und jene Aufzählungen all dessen, was gegen ihn sprach … nun ja, sie glaube ihm, aber seine Selbstbezichtigungen seien eben doch »zu schroff«. So ängstlich sei sie nicht, um sich davon abhalten zu lassen. Und die Opfer, die sie bringen würde, die Verluste, die er ebenso penibel aufgelistet hatte? Dafür bekomme sie ja auch etwas, nämlich – man wagt kaum, sich Kafka vor diesen Zeilen vorzustellen – »einen guten lieben Mann« .
    Verblendung, so könnte es scheinen. Doch damit nähme man die konventionelle Bürde derartiger Briefe allzu leicht. Ein ernstzunehmender Bewerber hatte einen Antrag gestellt, an Fräulein Bauer war es nun, den positiven Bescheid auszufertigen – das waren Aufgaben, für die noch eine Generation zuvor (zum Beispiel bei den Kafkas und Löwys) Ratgeber hinzugezogen und vorfabrizierte Textbausteine verwendet wurden. Es ist kein Wunder, dass ihr Floskeln unterlaufen, die Kafkas gebieterischem Anspruch auf authentische Innerlichkeit nicht im Entferntesten genügen. Doch naiv war sie nicht, und sie hätte wohl kaum zugestimmt, wenn sie nicht aus Kafkas unendlichen Selbstzweifeln das Moment der Wahrhaftigkeit und des Verantwortungsbewusstseins herausgespürt hätte. Aber sie sah auch das Fremde, Inkompatible, Verschlossene: Es sei durchaus denkbar, hatte sie ihn gewarnt, dass er ein Zusammenleben mit ihr gar nicht ertragen würde. Und als er ihr noch einmal ausmalte, welche soziale Isolation sie in ihrem neuen Leben in Prag erwartete – eine noch einmal genussvoll verschärfte Version seiner Kellerphantasie –, da spielte sie den Ball unbeeindruckt zurück: Gewiss, ein Leben wie das, womit Kafka drohte, würde ihr »recht schwer werden«. »Aber so zurückgezogen zu leben, ob Du das könntest, weißt Du nicht.« »Ob ich Dir alle Menschen ersetzen könnte, weißt Du nicht.« Das traf ins Zentrum seiner Projektionen und war schon beinahe gewitzt. [308]  
    Er überforderte sie, er wusste es. Seine eigenen Grenzen waren ihm weniger deutlich. Mit virtuoser Empathie spielte er durch, welche Verluste eine Ehe mit ihm, dem Elenden, für jenes bürgerliche ›Mädchen‹ nach sich ziehen würde. Auf die Überlegung, was eine Heirat für Felice überhaupt bedeutete, verfiel er hingegen nicht. Natürlich würde sie auf sein berufliches Fortkommen drängen, natürlich würde sie Kinder wollen, natürlich würden Eltern, Geschwister, Verwandte ein und aus gehen, wie denn nicht? Es war das Selbstverständliche, und wie {346} rasch und zufrieden man sich in ein solches Leben fand, sah er an Elli und Valli, den verheirateten Schwestern. Doch dieser Schluss war voreilig, und hätte Kafka die in Felices Schilderungen wahrlich nicht zu übersehenden Signale einer längst unterminierten, bröckelnden Normalität ernster genommen, so wäre die große Angst vielleicht ein Stück weit gewichen.
    Gerade, was ihn besonders quälte, hätte ein Hinweis sein können: Felices Schweigepausen, die häufig eintraten, wenn sie sich von zu Hause entfernte, zur Ausstellung nach Frankfurt, zur Erholung an die See, zur Schwester Erna nach Dresden und später nach Hannover. Gerade das Neue, das Fremde bringt doch gewöhnlich zum Sprechen; Felice hingegen schickte von unterwegs nichtssagende Postkarten, während ihr der vertraute Anblick der Familie das Bedürfnis nach Briefen, nach täglicher Aussprache einflößte. Das Merkwürdige dieses gleichsam antizyklischen Verhaltens entging offenbar Kafka gänzlich. Man wird hier über Vermutungen nicht hinausgelangen, doch der Gedanke liegt nahe, dass Kafka für Felice Bauer ein psychischer Kanal nach draußen war, der Schlüssel zu einer Tür, ein Gegenpol zu den fortdauernden Spannungen und der bedrängenden Verantwortlichkeit innerhalb des Familienclans. Felice wollte – nicht anders als Kafka – hinaus , und wenn sie schon einmal draußen war, probehalber gewissermaßen, so gedachte sie seiner weniger. Die Aussicht auf eine Ehe mit ihm eröffnete aber die Chance, das eine zu bekommen, ohne das andere zu lassen: in stabilen, gemütlichen und reputierlichen Verhältnissen zu leben und dennoch im Freien zu sein, draußen, wo man sich rühren konnte, wo es interessant war. Und der Preis, von dem Kafka immerzu sprach? Nun, was Anpassung war, das wusste sie zur Genüge, und es schreckte sie nicht. ›Ich werde mich an Dich gewöhnen‹, schrieb sie.

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