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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Anweisung des Kurarztes, und wo für 30 Pfennig Gebühr auch eine staatlich geprüfte Badewärterin beim Eintauchen stets zur Seite war. Nein, neutral war modern, Baden als Selbstzweck, freies Körperspiel in der Brandung – selbst wenn man, wie Felice, gar nicht schwimmen konnte.
    Doch Kafka fuhr nicht nach Sylt, er kam nicht los, und diesmal ganz ohne eigene Schuld. Denn längst war entschieden, dass Abteilungsleiter Pfohl seinen Urlaub im August antreten würde – in dieser Frage hatte er natürlich das Vorrecht –, und für Kafka, den Stellvertreter, bedeutete dies Anwesenheitspflicht: Das Amt war es wieder einmal, das eine Entscheidung seines Lebens vorwegnahm – auch wenn er zunächst so tat, als ginge es um eine Verabredung, die ganz nach Belieben zu vertagen oder zu wiederholen war. » … selbst wenn ich Urlaub hätte«, schrieb er nach Berlin, »ich käme kaum, ich muss meinen ganzen Urlaub darauf verwenden ein wenig hinaufzukommen, schon Dir zu Liebe«. [316]   In Wahrheit bedeutete dieses neuerliche Verfehlen ein kaum wiedergutzumachendes Unglück, und spätestens angesichts der von Tag zu Tag trivialer werdenden Ansichtskarten, die aus Westerland bei ihm eintrafen, muss Kafka klar geworden sein, dass er etwas verpasst hatte.
    Der Biograph hat keine Ratschläge zu erteilen, und die bedenkenlose Ferndiagnose an menschlichen Beziehungen, die Generationen, ja Epochen zurückliegen, zählt zu den abstoßendsten Begleiterscheinungen jener historischen Nivellierung, die unter der diskursiven Vorherrschaft der Psychologie seit Jahrzehnten zu beobachten ist. Dennoch: Verfolgt man die Kaskade von Ängsten, die Kafka, kaum war das Eheversprechen besiegelt, immer heftiger bedrängte und schließlich mit sich riss, so fällt es schwer, sich jeden Gedanken an ein ›Hätte‹ und ›Wäre‹ zu untersagen. Sie hätten sich treffen sollen, auf neutralem Boden, fernab von Eltern, Vorgesetzten und ›Curatoren‹ aller Art. Denn es war an der Zeit, gemeinsame Erfahrungen zu machen, eine gemeinsame Geschichte zu begründen und durch ein Handeln auf Probe – in welcher Form auch immer – jenen angstvoll erwarteten Realitätsschock der Ehe entweder zu mildern oder durch die Einsicht, dass es ›nicht geht‹, noch rechtzeitig abzuwenden.
    Doch die Bedeutung des Augenblicks verfehlten beide, und wie weit sowohl Kafka als auch Felice Bauer von jener Balance zwischen Nähe und Distanz noch entfernt waren, ohne die jedes Zusammenleben unweigerlich zur Qual wird, illustrieren die halbherzigen Versuche einer Verabredung auf drastische Weise. Am 2.August schlägt Kafka vor, Felice solle auf der Rückreise von Sylt »für einige Stunden« nach Prag kommen. Schon am folgenden Tag dreht sich der Wirbel in entgegengesetzter Richtung: »Ich glaube ich werde während unserer Verlobungszeit, selbst wenn wir erst im Mai heiraten sollten, kaum einmal nach Berlin kommen.« Am 4.August widerruft er diesen Gedanken, aus »Angst davor, dass ich zugrunde gehe, wenn wir nicht bald beisammen sind«. »Komm also, Felice«, wiederholt er, »komm, wenn Du nur irgendwie kannst, auf der Rückreise nach Prag.« Doch am 6.August erhält er die – alles andere als überraschende – Nachricht, dass Felice keinesfalls gewillt ist, zum Abschluss ihrer knapp bemessenen Ferien zwei volle Tage im Zug zu verbringen. Am 11.August ein weiterer Schlag; Felice schreibt: »Dass ich jetzt nach Prag komme, ist ganz und gar ausgeschlossen. Wieso glaubst Du aber, dass Du vorerst überhaupt nicht nach Berlin kommen könntest? Wie ist es denn mit den Weihnachtsferien?« Kafka ist entsetzt: Bis Weihnachten sind noch vier Monate! Hat sie denn kein Verlangen, ihn zu sehen, glaubt sie wirklich, die schwache, aus nichts als Briefen errichtete Brücke würde so lange noch standhalten? {357} Keineswegs, denn sogleich folgt die nächste Kehrtwendung: Am 21.August fragt sie, ob er nicht doch noch vor den Sommerferien kommen könne. Nein, das kann er nicht, denn er will seinen Urlaub »zusammenhalten«. Sie fragt noch einmal: Wäre denn nicht wenigstens ein Rendezvous auf halbem Weg denkbar, in Dresden vielleicht? Am 2.September lehnt Kafka auch diesen Vorschlag ab. Er hat jetzt andere Pläne.
    Ein verwickeltes, doch nicht sonderlich anmutiges Menuett, das die beiden aufführen. Ein Schritt nach vorn, zwei Schritte zurück, ein Geistertanz ohne Berührung und von eigentümlicher Trägheit. Deutlich wird das mittlerweile erstickende Übergewicht des Imaginären über die

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