Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
selbständigen Schritten in die Ehe wiederum an die Leine legen lassen, und Felice, der Familienmensch, hatte sich unabhängiger gezeigt als er, der doch in jedem zweiten Brief die Fremdheit gegenüber den Eltern herausstrich. Wie tief dieser Stachel tatsächlich saß, sollte sich ein Jahr später erweisen, als Kafka das Schuldkonto des Prokuristen Josef K. eröffnete.
    Dass DER PROCESS ausgerechnet am dreißigsten Geburtstag des Angeklagten in Gang kommt, gehört zu jenen zahllosen autobiographischen {354} Rückkopplungen, von denen kein Leser etwas ahnen würde, hätten wir nicht Zugang zu den intimsten Dokumenten von Kafkas Existenz. Sein dreißigster Geburtstag: Das war der Tag, an dem er auf die Probe gestellt wurde, an dem er die Frage nach Felices Leumund sich hätte verbeten müssen. Wo er vertraute, wollten die Eltern Beweise, doch sein Widerstand war halbherzig gewesen, und Kafka musste sich fragen, ob er einer geheimen Neugierde auf jene ›Beweise‹ nicht selbst schon erlegen war. So ist es auch im PROCESS nicht die unbedarfte Vermieterin, sondern Josef K. selbst, der vor die Tür der Zimmernachbarin »F. B.« das Gift des Verdachts streut – um sich dann über dessen Wirkung umso mehr zu entrüsten.
»›Das Fräulein kommt oft spät nachhause‹, sagte K. und sah Frau Grubach an, als trage sie die Verantwortung dafür. ›Wie eben junge Leute sind!‹ sagte Frau Grubach entschuldigend. ›Gewiss, gewiss‹, sagte K., ›es kann aber zu weit gehn.‹ ›Das kann es‹, sagte Frau Grubach, ›wie sehr haben Sie recht Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall. Ich will Fräulein Bürstner gewiss nicht verleumden, sie ist ein gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Strassen immer mit einem andern Herrn gesehn. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle es beim wahrhaftigen Gott nur Ihnen Herr K., aber es wird sich nicht vermeiden lassen, dass ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es ist übrigens nicht das einzige, das sie mir verdächtig macht.‹ ›Sie sind auf ganz falschem Weg‹, sagte K., wütend und fast unfähig es zu verbergen, ›übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein missverstanden, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein irgendetwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr was Sie sagten. Übrigens vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. Gute Nacht.‹« [314]  
    Frau Grubach ist beeindruckt. Ein Vorbild für die leichtfertige Jugend, dieser aufrechte Herr K. Wie beeindruckt wäre sie erst, wüsste sie, dass ihr Mieter, in auffallender Sorge um den guten Namen seiner Nachbarin, in diesem Augenblick sogar den verabredeten Besuch bei einer Prostituierten versäumt. Doch so dick hätte Kafka gar nicht auftragen müssen – dass hier eine unreine innere Stimme übertönt werden soll, wird wohl kaum einem Leser entgehen. Selbst der Protagonist vermag seine Rolle nicht zu Ende zu spielen: »›Die Reinheit!‹ rief K. noch durch die Spalte der Tür, ›wenn Sie die Pension rein erhalten {355} wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen!‹ Dann schlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht mehr.«

    August 1913, Seebad Westerland auf Sylt, der ›Königin der Nordsee‹. Ein standesgemäßer Ort, um sich zu erholen, gehoben bürgerlich, elegant, ein informeller Heiratsmarkt mit mannigfacher Gelegenheit, auf ›andere Gedanken‹ zu kommen, mit wohlorganisierten und -sortierten Vergnügungen. »Im Norden liegen das Damenbad und das Familienbad Nord«, erklärt akkurat der Reiseführer, »im Süden das Familienbad Süd mit abgetrenntem Herrenbad; dazwischen der breite neutrale Strand, mit Strandburgen und Strandkörben besät, auf dem sich ein munteres Treiben entwickelt.« [315]   Munteres Treiben suchte Felice Bauer auch in den Ferien, nicht anders als Fräulein Danziger, ihre Cousine, die als moralischer Schutzschild mitreiste und mit der sie ein Zimmer in der komfortablen Pension ›Sanssouci‹ teilte. Hätte Kafka seine Braut dort überraschen wollen, so hätte er gewusst, in welchem Planquadrat sie zu finden war – gewiss nicht im Damenbad, wo man sich noch immer aus blickdichten Badekarren ins Meerwasser ließ, streng nach

Weitere Kostenlose Bücher