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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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aus Lemberg trieb, hatte er nicht geschwärmt von diesen kindlichen Menschen, die sich zwischen ihren schäbigen Requisiten aufführten, als spielten sie vor lauter Verwandten? Und hatte Kafka in seinem Vortrag über die jiddische Sprache seine Zuhörer nicht geradezu verführt, sich auf die organische Gemeinschaft ostjüdischer Kultur einzulassen, selbst auf die Gefahr hin, dass ihnen angst wurde vor ihrer eigenen atomisierten Existenz?
    So war es. Doch die zionistische Bewegung hantierte mit Dimensionen, die Kafka abstrakt und unwirklich schienen. Ganz gleich, ob es um die ›jüdische Renaissance‹ Martin Bubers ging oder um ein jüdisches Bodybuilding à la Max Nordau, stets war von ›Volk‹ und ›Nation‹ die Rede, und das war etwas völlig anderes als das unschuldige, seinen Schwerpunkt unbewusst in sich selbst tragende Leben, das Kafka vor Augen hatte. ›Volk‹ und ›Nation‹, das waren autonome, sich selbst konstituierende, sich selbst verwaltende Massen. Aber wie hatte man sich das vorzustellen, eine jüdische Masse ?
    In Wien sah er sie zum ersten Mal. Juden aus Russland, aus Kanada, aus England, Frankreich, Deutschland, Polen, Palästina, Südafrika. In großen Gruppen durch die Stadt schlendernd, in Kreisen beieinander stehend, gestikulierend. Alle trugen das gleiche blauweiße Abzeichen. Es waren die Delegierten und Besucher des XI. Internationalen Zionistenkongresses, der am 2.September, wenige Tage vor Kafkas Ankunft, eröffnet worden war. Eine Monstre-Veranstaltung: alle großen Säle der Stadt Wien belegt, die Meetings überfüllt. Fast 10 000 Juden waren gekommen.
    Natürlich wusste Kafka seit langem davon. Es nahmen ja auch etliche Prager Zionisten teil, mit denen er bekannt oder befreundet war – vor allem der Rechtsanwalt Theodor Weltsch und seine Tochter Lise, daneben Else Bergmann, deren Bruder Otto Fanta und nicht zuletzt Klara Thein, eine knapp 30-jährige Schönheit, die Kafka im Hause Fanta kennen gelernt hatte. [377]   Auch der Studentenverein Bar-Kochba war mit einer eigenen Abordnung vertreten. Es ist durchaus wahrscheinlich – wenngleich Kafka gegenüber Felice kein Wort darüber verliert –, dass es auch die Neugier auf dieses Schauspiel war, die ihn veranlasste, die Dienstreise nach Wien ein wenig früher anzutreten, und die Freunde werden ihn darin bestärkt haben. Themen und Tagesordnung konnte er am 29.August in der Selbstwehr studieren, und die Eintrittskarten bestellte er schon von Prag aus.
    Nun zählen freilich Großkongresse von Parteien und Verbänden gewöhnlich nicht zu den Veranstaltungen, die man aus Neugier besucht. Es sind Ereignisse, aber keine events , und das geistige Vakuum, das sie erzeugen, ist nicht nur strukturell bedingt, sondern auch gewollt. Niemand, der zur Führungsgruppe derartiger Organisationen gehört – bei den Zionisten repräsentierten die fünf Mitglieder des ›Engeren Actions-Comités‹ die oberste Exekutive –, verspürt ein Interesse daran, sich von Menschen ins Tagesgeschäft hineinreden zu lassen, die er nur alle ein oder zwei Jahre sieht und denen er den nötigen Überblick erst mühsam vermitteln muss. Notorisch daher die Neigung aller Funktionäre, Grundsätzliches in kleinerem, informellem Kreis vorzuentscheiden, Rückschläge und Konflikte herunterzuspielen und sich im Notfall hinter Formalien zu verschanzen – was umso leichter fällt, je vielgliedriger und unübersichtlicher der Verband und demzufolge auch seine Hauptversammlungen sind.
    Durchblättert man die umfänglichen Rechenschaftsberichte des Actions-Comités, die den Zionistischen Kongressen vor dem Ersten Weltkrieg vorgelegt wurden, so gewinnt man das Bild einer immens verzweigten, weltweit operierenden Organisation mit Landesverbänden, Bezirksgruppen, Kommissionen, Sammelstellen, Zeitschriften, eigenem Verlag und eigener Bank. Vor allem, seit die Führungspositionen im deutsch-jüdischen Bürgertum konzentriert waren, wurde größter Wert auf eine Selbstdarstellung gelegt, die den Eindruck der Geschlossenheit, der Integration, der politischen und sozialen Berechenbarkeit vermittelte. Und am ehesten erweckte diesen Eindruck {406} eine straffe bürokratische Hierarchie – die deutschen Sozialdemokraten hatten bereits gezeigt, wie man das macht.
    Nun stand diesem Willen zur Seriosität freilich die Tatsache entgegen, dass der Zionismus noch immer eine Bewegung war und dass von einheitlichen, der Tagespolitik entrückten Zielen daher keine Rede sein konnte.

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